Ostdeutschland:Sie bleiben da und mache nicht mehr "rüber"

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Die Abwanderung von Ostdeutschen in den Westen ist auf einem historischen Tiefstand. Gleichzeitig schlagen mehr Menschen den umgekehrten Weg ein. Zeichnet sich eine Trendwende ab?

Sarina Pfauth

Am Anfang rümpften die Freunde die Nase, erzählt Hanna Schrader. "Was willst du denn im Osten?", wurde sie gefragt. Hanna Schrader, 31 Jahre alt, ist gebürtige Bayerin und wohnt seit dreieinhalb Jahren in Schwerin.

Hiergeblieben! Verlassene Plattenbauten in Eisenhüttenstadt. Viele junge, qualifizierte Menschen haben ihr Glück schon im Westen Deutschlands gesucht - viele von ihnen würden aber gerne zurückkommen. (Foto: ag.dpa)

Man könnte sie eine Trendsetterin nennen: Die Zahl der Westdeutschen, die in den Osten ziehen, nimmt wieder zu - im vergangenen Jahr um immerhin drei Prozent auf 88.000 Umzügler.

Noch viel auffälliger ist die zweite Nachricht, die das Statistische Bundesamt kürzlich schnörkellos und unemotional vermeldete:

"Innerhalb Deutschlands zogen im Jahr 2009 aus den neuen Bundesländern 120.000 Personen in die alten Länder (2008: 137.000. Damit ging die Wanderung von Ost- nach Westdeutschland um zwölf Prozent zurück."

Was da in dürren Lettern steht, hat es in sich: Seit der Wende sind nie weniger Menschen von Ost nach West gezogen als im vergangenen Jahr. Die Ossis machen seltener "rüber".

Was aber sind die Ursachen dafür? Gibt es im Osten einfach keine jungen Menschen mehr, die noch abwandern können? Oder setzt hier eine Trendwende ein - und die einst prophezeiten blühenden Landschaften kommen plötzlich wieder in Reichweite?

"Ich würde noch keine Entwarnung geben", sagt Klaus Friedrich. Noch nicht. Friedrich ist Professor für Sozialgeographie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und forscht seit Jahren zum Thema Brain Drain aus Ostdeutschland - der Abwanderung junger, qualifizierter Menschen aus den neuen Bundesländern.

Bislang sei nicht klar, ob die neueste Wanderungsstatistik tatsächlich eine Trendwende markiert. Denn die Zahlen schwanken seit der Wende - nach einer großen Abwanderungswelle nach dem Fall der Mauer sank die Zahl derer, die "rübermachten", weil sich die ökonomische Situation im Osten zusehends besserte.

Vor der Jahrtausendwende seien die Zahlen von Zu- und Abwanderern im Osten beinahe ausgeglichen gewesen, berichtet Friedrich. Danach verschlechterte sich die Arbeitsmarktlage im Osten und es suchten wieder mehr Leute ihr Glück im Westen. Durch die letzte Wirtschaftskrise wurden nun die neuen Bundesländer weniger gebeutelt als die alten - und das macht sich in der Bevölkerungsstatistik bemerkbar.

Wenn nicht jetzt, dann bald

Dass die Trendwende in naher Zukunft bevorsteht, davon ist Friedrich überzeugt. Seine Studien zur Ost-West-Wanderung zeigen, dass ein großer Teil der Abgewanderten bereit wäre, zurückzukehren in den Osten - unter einer Voraussetzung: "Die Antwort war immer: Wenn wir gleich viel im Portemonnaie haben wie hier im Westen." Immerhin 30 bis 40 Prozent könnten sich dann vorstellen, zurückzuziehen.

Das bestätigt eine weitere, durchaus steile These Friedrichs: "Die Abwanderung ist kein Nachteil für Ostdeutschland", sagt Klaus Friedrich. Er kann seine Behauptung auch begründen: Moderne Wanderungsprozesse, erklärt er, gingen meist nicht nur in eine Richtung. Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, laufen sie zirkulär ab. Das bedeutet: Die jungen Ostdeutschen, die jetzt im Westen gut ausgebildet werden, Erfahrung im Berufsleben sammeln und Geld verdienen, werden zurückkommen - sobald eine Bedingung erfüllt ist: "Der Schlüssel ist die ökonomische Angleichung der Lebensverhältnisse."

Noch ist die Gefahr von ostdeutschen Geisterstädten aber nicht gebannt, im Jahr 2009 hatten die neuen Bundesländer immerhin noch einen Abwanderungsverlust von 40.000 Bürgern zu verkraften. Und die Behauptung, dass es im Osten nun keine Jugend mehr gibt, die noch abwandern kann, ist zwar übertrieben - einen wahren Kern findet man darin jedoch schon: "Ein Großteil derer, die abwandern wollten, ist inzwischen weg", erklärt Friedrich. Auch das drückt die Statistik.

Selbst wenn plötzlich alle Ostdeutschen darauf verzichten würden, die Koffer zu packen - so viele sind schon gegangen, dass die Folgen noch einige Jahre zu spüren sein werden. Seit 1990 haben die neuen Länder rund 1,6 Millionen Einwohner an Westdeutschland verloren - das entspricht ungefähr zehn Prozent der früheren DDR-Bevölkerung. Inzwischen leben nur noch rund 13 Millionen Menschen in den fünf neuen Ländern. Jeder dritte Abwanderer von dort ist zwischen 18 und 25 Jahren alt - schon jetzt fehlt in manchen Regionen qualifizierter Nachwuchs.

Das merkt auch Hanna Schrader in Schwerin: "Ich bin hier verantwortlich für die Einstellung von Azubis, und das wird immer schwieriger. Es lässt sich nicht leugnen, dass wir in der Region stark mit der Abwanderung und dem Nachwuchsschwund zu kämpfen haben", sagt sie.

Verschiedene Studien gehen davon aus, dass es noch rund zehn Jahre dauern wird, bis der Osten Deutschland das ökonomische Niveau der ärmeren westdeutschen Länder erreicht haben wird.

Was aber nährt diese Hoffnung? Friedrich betont die strukturellen Vorteile der ostdeutschen Wirtschaft: "Unsere Wirtschaft wurde ganz neu aufgebaut. Die Firmen haben sich auf neue Produkte, häufig auf Nischenproduktion, spezialisiert. Ich gehe davon aus, dass sich dieser Vorteil bald herauskristallisiert."

Zudem bietet Ostdeutschland für junge Hochqualifizierte eine Menge Arbeit: Forschungszentren, Universitäten, ein starkes Netz von Fachhochschulen - wer als Wissenschaftler weiterkommen will, hat im Osten derzeit gute Chancen.

Außerdem gebe es einen beträchtlichen Prozentsatz von Westdeutschen, die in Ostdeutschland studiert haben und nun im Westen ihre Karriere starten, sich aber eine Zukunft im Osten vorstellen könnte - meist als Selbständige. Friedrich hofft, dass aus dieser Schicht eine Gründergeneration erwächst, die hilft, den Osten Deutschlands wirtschaftlich nach vorne zu katapultieren.

Hanna Schrader, 31 Jahre alt und gebürtige Bayerin, lebt in Schwerin. Sie zog für den Job nach Ostdeutschland. (Foto: oh)

Auch die gebürtige Bayerin Hanna Schrader hat das in den Osten Deutschlands gezogen, was bislang jedes Jahr viele Ostdeutsche nach Bayern gelockt hat: Arbeit. Schrader ist Büroleiterin und Pressesprecherin des Klassikfestivals Festspiele Mecklenburg-Vorpommern und findet ihren Job großartig. Sie hatte aber auch noch andere Motive für den Umzug: "Ich war zuvor noch nie in Ostdeutschland. Und ich dachte, wenn man sich als Deutsche versteht, muss man auch versuchen, alle Teile Deutschlands kennenzulernen."

Ob es in "Meck-Pomm" anders ist als in Bayern? "Schon. Aber es ist ja immer anders, wenn man von seiner Heimat weggeht." Bislang fühlt sie sich in Schwerin als Süddeutsche zwar noch etwas exotisch - aber trotzdem wohl: "Ich fühle mich hier wirklich zu Hause. Inzwischen haben auch einige meiner Freunde ihre Hemmschwelle überwunden, mich hier besucht - und selbst gesehen, wie wunderschön Mecklenburg-Vorpommern ist. Ich möchte nicht ausschließen, dass ich für immer hier im Norden bleibe."

Es gibt übrigens keine aktuellen Studien darüber, wie sich der Strom aus Ost-Zuwanderern zusammensetzt. Noch vor fünf Jahren, erzählt Friedrich, kamen vor allem diejenigen zurück, die im Westen gescheitert waren. Das aber "könnte sich inzwischen geändert haben."

Die Hoffnung des Ostens ist, dass die Erfolgreichen zurückkommen - und mit ihnen Geld, Potential und Mut.

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