Identität:Wer sind eigentlich diese Ostdeutschen?

Morgenstimmung in Dresden

Tief im Osten: Morgenstimmung in Dresden, vor der Marienbrücke

(Foto: dpa)

Die Linke hat eine Debatte über die Herkunft der Ostdeutschen angestoßen. Nach ihrer Definition würde zwar nicht einmal die Kanzlerin dazu zählen. Trotzdem ist es gut und befreiend, dass endlich über Ostdeutschland und seine Identität geredet wird.

Kommentar von Cornelius Pollmer, Dresden

Schrecklicher Verdacht: War Goethe Ostdeutscher? Es galt, diesen Gedanken kurz zu prüfen, vor Jahren, bei einer Gesprächsrunde in Thüringen. Ein Teilnehmer hatte sich gerade argumentativ verloren, er hatte etwas sagen wollen über das Weimar früherer Tage und deswegen einen nicht eben faustischen Monolog begonnen über das "ehemalige Ostdeutschland". Weiter kam er nicht. Spott, Johlen. Sogleich aber auch: eine heitere Diskussion darüber, wer sie eigentlich seien, diese Ostdeutschen, von denen jetzt immer alle redeten.

Wenig hilfreich wäre dabei jene Definition gewesen, mit der die Linksfraktion in Mecklenburg-Vorpommern gerade eine Kleine Anfrage ausgestattet hat. Als ostdeutsch gilt demnach, "wer vor dem 31. Dezember 1975 auf dem Gebiet der DDR geboren wurde und dort 1989 oder kurz vorher gelebt hat". Es erschließt sich rasch, dass eine solche Definition autochthoner Blödsinn ist. Dass sie zwar berechtigterweise Goethe ausschließt, vor allem aber unberechtigterweise viele andere mehr.

Mindestens wunderlich wird es, wenn die 1969 in Wismar geborene Fraktionsvorsitzende Simone Oldenburg selbst auf Nachfrage ohne Ironie und mit der Ungerührtheit eines Computerprogramms bestätigt, ja, nach der von ihr gewählten Definition sei Angela Merkel keine Ostdeutsche, weil eben in Hamburg geboren. Das mag einen belustigen. Es könnte aber auch Verwirrung stiften bei jüngeren Wutbürgern auf ihrer Suche nach Identität in unübersichtlichen Zeiten. Motto: Jetzt nehmen sie uns auch noch das Ostdeutsch-Sein weg!

Unsinnig ist die Definition der Linken nicht nur, weil sie mit mathematischer Kälte operiert. Gerade der Widersinn dieser mathematischen Kälte führt auf den Weg zu einer richtigen Antwort. Ja, es gibt Menschen, die sich als Ostdeutsche per Geburt begreifen, nur beschränkt sich ostdeutsche Identität nicht darauf, schon gar nicht in den engen Grenzen irgendwelcher Stichtage. Es gibt nach 1990 geborene Menschen, die sich als ostdeutsch begreifen. Es gibt "Wossis" wie den zugezogenen Thomas de Maizière, der Dresden inzwischen "meine einzige Heimat" nennt, sich selbst aber nicht explizit ostdeutsch. Es gibt, andersherum, sogar Menschen, die sich erst dann als Ostdeutsche zu begreifen begannen, als sie ihre Heimat verlassen hatten und in den politischen Westen gegangen waren.

Viele Jüngere verstehen sich mehr als Görlitzer, Eichsfelder oder Brandenburger

So unterschiedlich die Ursprünge nicht nur dieser Identifikation sein können, so unterschiedlich sind auch die Antworten auf die Frage, was es eigentlich bedeutet, ostdeutsch zu sein. Bei vielen älteren Ostdeutschen ist es eine Mischung, die der Soziologe Heinz Bude ein "Gefühl von Tragik und Stolz" nennt. Viele jüngere Ostdeutsche verstehen sich mehr als Görlitzer, Eichsfelder oder Brandenburger.

Andere begreifen sich zwar prononciert als ostdeutsch, sehen diese Zuordnung jedoch weder als Stigma noch als Quelle stumpfen Stolzes. Ostdeutsch zu sein ist für sie im besten Sinne selbstverständlich, irgendwoher muss man ja kommen - und mit eigenen Erfahrungswelten bleiben nur die wenigsten gerne allein. Nicht zuletzt gibt es Menschen, die in der Hektik der Nachwende und viele Jahre danach kaum Kraft und Zeit fanden, sich zu fragen, wie sehr Herkunft und Heimat sie prägen. Dass der Osten 30 Jahre nach dem Mauerfall ein sachliches Selbstgespräch über diese Frage begonnen hat, ist befreiend und gut.

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