Süddeutsche Zeitung

Ostukraine:Schüsse in der Waffenruhe

In der Konfliktregion sollte von Montag an eine Feuerpause gelten - als Voraussetzung für Verhandlungen mit Russland. Doch offenbar brechen moskaunahe Separatisten sie sogleich.

Von Silke Bigalke, Moskau

Wieder eine Waffenruhe, die womöglich keine war. Wieder haben die Menschen in der Ostukraine auf eine Feuerpause gehofft, wieder gibt es Verstöße, die Zweifel wecken, ob die Feuerpause diesmal hält. Sie sollte von Montag kurz nach Mitternacht an gelten.

Mehr als 20 Anläufe hat es schon gegeben, die Gefechte in der umkämpfte Region Donbass zu stoppen. Schwere Geschütze sollten auch diesmal aus den Ortschaften abgezogen werden, keine Drohnen mehr die Frontlinie abfliegen. Und Feuer sollten die Truppen nur noch nach Rücksprache mit der oberste Kommandoebene erwidern.

Doch die vergangene Woche zwischen den Konfliktparteien unter Vermittlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) vereinbarten neuen Regeln haben offenbar nur wenige Stunden gehalten. Schon Montagmorgen hätten die von Russland unterstützen Separatisten die Waffenruhe gebrochen, teilte der Oberkommandierende der ukrainischen Regierungstruppen mit, Generalleutnant Wladimir Krawtschenko. Sie hätten ukrainische Stellungen mit Maschinengewehren und Mörsern beschossen. Niemand verbiete den Soldaten, in einer lebensgefährlichen Situation das Feuer zu erwidern, sagte er. Auch würden Drohnen weiterhin die Front abfliegen.

Die Vertreter der prorussischen Separatisten aus Donezk bestritten die Vorwürfe und warfen der ukrainischen Armeeführung eine Provokation vor, die "auf eine Destabilisierung der Lage abzielt". Sie beteuerten, sich an die Waffenruhe zu halten, für die sich sowohl Russlands Präsident Wladimir Putin als auch sein ukrainischer Kollege Wolodimir Selenskij ausgesprochen hatten.

Für einen weiteren Vierer-Gipfel mit Merkel und Macron ist ein Ende der Gefechte Voraussetzung

Seit mehr als sechs Jahren halten die Kämpfe im Donbass in der Ostukraine an, mehr als 13 000 Menschen wurden getötet. Der Prozess, der Frieden bringen soll, stockt seit Langem: Immer wieder wurden Vereinbarungen zu Waffenruhen gebrochen. Im Dezember noch hatten Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron versucht, aufs Neue Verhandlungen anzuschieben. In Paris hatten sie sich mit Putin und Selenskij getroffen. Schon damals war ein Waffenstillstand vereinbart worden, als wichtigste Voraussetzung für einen zweiten Vierer-Gipfel im sogenannten Normandie-Format. Der sollte eigentlich bereits im Frühjahr stattfinden, wenn die Feuerpause ein paar Monate gehalten hat - wann und ob er nachgeholt werden kann, ist offen.

Zwar hatten Putin und Selenskij am Wochenende miteinander telefoniert und sich öffentlich zu der Waffenruhe bekannt. Die beiden Präsidenten sprechen nicht häufig miteinander. Der Kremlchef ließ Selenskij nach dessen Wahl im Frühjahr 2019 beinahe drei Monate auf den ersten Anruf warten. Schon deswegen gilt jedes Gespräch als gutes Zeichen. Doch aus den Statements der beiden Seiten ließ sich dieselbe Uneinigkeit herauslesen, die seit Jahren einer Lösung des Konflikts entgegensteht.

Putin und Selenskij haben telefoniert - ihre Erklärungen zeigen vor allem die Differenzen

In der Mitteilung aus Kiew hieß es, beide Seiten hätten sich auf zusätzliche Maßnahmen geeinigt, etwa wenn es darum geht, Minen zu entfernen, Geschütze und Soldaten abzuziehen, neue Kontrollpunkte entlang der Kontakt-Linie einzurichten, Mitarbeiter des Roten Kreuz zu den Gefangenen zu lassen. Laut Kiew sprachen die beiden Präsidenten nun auch über die lokale Selbstverwaltung bestimmter Distrikte in Luhansk und Donezk.

Im Statement aus dem Kreml war darüber allerdings nichts zu finden. Stattdessen kritisierte Putin den Kiewer Entschluss, im Oktober Regionalwahlen abzuhalten. Von ihnen sollen die selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk ausgenommen werden.

Aus Sicht der ukrainischen Regierung ein logischer Schritt: Freie und faire Wahlen erscheinen dort unmöglich, solange die Gebiete mit russischer Hilfe von abtrünnigen Rebellen kontrolliert werden. Kiew möchte erst die eigene Autorität in den Regionen wiederherstellen und die Kontrolle über die ukrainisch-russische Grenze zurückerlangen, bevor es dort Wahlen organisiert.

Genau das ist einer der Streitpunkte, wenn es um die Auslegung des Minsker Friedensabkommens geht. Das sieht zwar auch lokale Wahlen vor sowie einen Sonderstatus für diese Regionen und eine Amnestie für die Separatisten. Moskau möchte all das aber am liebsten durchsetzen, solange die Gebiete unter russischem Einfluss stehen. Unter diesen Bedingungen könnten die jetzigen Machthaber durch Wahlen legitimiert werden.

In Paris hatte man auf diese großen Fragen keine Antwort gefunden und einigte sich auf erste kleinere Schritte: Gefangenaustausch, Waffenruhe, Rückzug von der Front. Hoffnung machte, dass beide Seiten bereits Ende Dezember insgesamt knapp 200 Gefangene freiließen. Doch die Beobachter der OSZE berichteten schon bislang fast täglich von Verstößen gegen die Waffenruhe.

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SZ vom 28.07.2020
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