Oscar-Preisträgerin :"Scheinheilig und verlogen"

Sharmeen Obaid-Chinoy

Sharmeen Obaid-Chinoy, 37, macht Pakistan stolz, aber viele schämen sich auch ihretwegen, weil ihr Erfolg auf Filmen über Ehrenmorde und Säureopfer basiert. Die Dokumentarfilmerin hat zwei Oscars gewonnen für "A Girl in the River" (2015) und "Saving Face" (2012).

(Foto: Tobias Matern)

Die pakistanische Filmemacherin Sharmeen Obaid-Chinoy kämpft für Wandel in ihrem Land - und klagt die Geistlichen an.

Interview von Tobias Matern

SZ: Ehrenmorde blieben in Pakistan lange unbestraft, wenn die Familie dem Täter vergeben hat. Jetzt hat das Parlament ein Gesetz verabschiedet, das Vergebung ausschließt. Ist das ein Wendepunkt?

Obaid-Chinoy: Es gab schon eine Reihe solch prominenter Fälle, in denen jede Vergebung ausgeschlossen wurde. Etwa bei dem Fall als eine Frau vor dem Obersten Gericht in Lahore gesteinigt wurde, in einem andern Fall hatte der Bruder seiner Schwerster die Kehle durchgeschnitten und seelenruhig zugesehen, wie sie verblutete. Und jetzt Qandeel Baloch, der Star der Social-Media-Szene. Mit dem am Donnerstag beschlossenen sogenannten Anti-Ehrenmordgesetz können die Angehörigen nur noch die Todesstrafe verhindern. Der Täter muss dann aber immer noch eine lebenslange Haftstrafe verbüßen. Das Traurige an Qandeels Fall ist, dass sie versucht hat, ihre eigene Stimme zu finden, einfach sie selbst zu sein. Hätte sie sich nicht mit den mächtigen Islamgelehrten angelegt, würde sie heute noch leben.

Qandeel Baloch zeigte sich halb nackt im Netz. War sie wirklich Feministin, wie sie selbst von sich sagte?

Ich glaube eher, sie wollte sich einen Namen machen. Die sozialen Medien waren das Instrument dafür. Sie machte klar, dass wir Frauen den Klerikern schaden können, wenn wir den Mund aufmachen. Weil wir genau wissen, wie diese Männer drauf sind.

Wie sind die Islamgelehrten denn drauf?

Viele Kleriker sind scheinheilig und verlogen, sie leben mit einer Doppelmoral. Und dann, ganz ehrlich: Viele von denen wissen nicht wirklich über den Islam als Religion Bescheid.

In Ihren Filmen überschreiten Frauen immer Grenzen, sie widersetzen sich dem Ehemann, dem Vater, dem Bruder. Warum ist das Brechen von Tabus in Pakistan lebensgefährlich?

Pakistan ist eine sehr traditionelle Gesellschaft, die sich wandelt, aber auch ihre ungeschriebenen Regeln hat. In erster Linie geht es darum, dass Kinder die Eltern respektieren müssen, weil die angeblich immer die besten Entscheidungen treffen. Besonders für Frauen kann der Preis sehr hoch sein, wenn sie das missachten. Es kommt aber auch sehr darauf an, ob ein Mädchen in einem kleinen Dorf oder in einer Großstadt aufwächst, ob die Eltern gebildet und fortschrittlich eingestellt sind. Dann können sich die Töchter sogar ihren Vätern widersetzen. Es liegt an der Familie, in die man hineingeboren wird.

Ein hoher Preis, das klingt bei Ehrenmord sehr nüchtern.

Sehen Sie, in Pakistan werden jeden Tag Frauen ermordet. Eine Frau umzubringen ist hier einfacher als in einem Park spazieren zu gehen. Wir kennen nicht einmal ihre Namen, niemand erweist ihnen die letzte Ehre an ihren anonymen Gräbern. Man kann das Ehrenmord nennen, man kann es aber auch einfach nur Mord nennen. Egal wie man es nennt, diese Frauen werden einfach umgebracht. Der Grund ist meist, dass sie eine rote Linie überschritten haben. Etwa, weil sie in die Schule gehen und lernen wollten, oder einen Mann ihrer Wahl geheiratet haben, oder ihren prügelnden Ehemann verlassen haben.

Premierminister Sharif hat sich Ihren Film über Ehrenmorde angesehen und dann versprochen, die Täter in Pakistan nicht mehr ungestraft davonkommen zu lassen. Das Gesetz wurde nun geändert. Ist Ihre Mission damit beendet?

Trotz des neuen Gesetzes gibt es immer noch starke Kräfte in diesem Land, die den Status quo erhalten wollen. Im Fall von Ehrenmorden hat die Regierung von Premierminister Sharif nun die ersten Schritte unternommen, um die Täter zu bestrafen. Wir hoffen, dass durch weitere Vorführungen des Films und eine anhaltende Diskussion über das Thema wir auch dahin kommen, Einstellungen von Männern zu verändern, die es als ehrenwert empfinden, zu morden.

Sie meinen, Gesetze garantieren noch keinen Wandel, es ist eher eine Frage der Haltung gegenüber Frauen?

Genau, Gesetzgebung ist das eine, Wandel der Einstellung das andere. Die Männer müssen wissen, dass sie für den Mord an einer Frau für lange Jahre hinter Gittern landen. Erst wenn genügend Ehrenmörder in den Knast wandern, wird das andere abschrecken. Die Botschaft muss sein, dass Ehrenmord ein höchst verwerfliches Verbrechen ist. Bis heute ist es aber so, dass man mit einem Mord an einer Frau einfach davonkommen kann oder zumindest das Gefängnis schon nach ein paar Monaten wieder verlässt.

Offiziell gibt es Jahr für Jahr tausend Ehrenmorde in Pakistan.

Ich würde darauf wetten, dass die wirkliche Zahl weit höher ist. Ich gehe davon aus, dass in diesem Land jedes Jahr mindestens drei- oder eher sogar viertausend Frauen und Mädchen Ehrenmorden zum Opfer fallen. Aber was bedeuten schon diese Zahlen? Es geschehen zahllose Morde, von denen keiner je erfährt, die nie angezeigt und registriert werden. Diese Verbrechen finden mitten in der Nacht statt, die Leichen werden verscharrt, nie wird einer davon erfahren. Es ist, als ob die Menschen, die diesen Verbrechen zum Opfer fallen, nie existiert hätten.

Woher kommt die Unkultur des Ehrenmordes, gibt es eine religiöse Komponente?

Der Islam sagt, wer einen Menschen tötet, tötet die gesamte Menschheit. Töten ist verboten. Aber das Patriarchat ist weit stärker in Pakistan. Ehrenmord ist eigentlich ein Machtspiel: Es geht darum, Kontrolle über Frauen auszuüben.

Haben Sie auch Angst um Ihr Leben?

Jeder, der in Pakistan lebt und die herrschenden Machtstrukturen infrage stellt, bringt sich automatisch in Gefahr. Aber wir leben nun einmal in diesem Land. Wir müssen für eine bessere Zukunft arbeiten. Hunderttausende beschäftigen sich mit Fragen, denen ihre Leidenschaft gilt, für die sie kämpfen. Manche müssen für den Wandel sterben. Andere leben dafür lange genug, um zu sehen, dass der Wandel dann wirklich stattfindet.

Der SZ-Redakteur Tobias Matern und der Fotograf und Kameramann Jakob Berr haben in Pakistan die Hintergründe des Todes von Qandeel Baloch recherchiert. Lesen Sie hier Ihre Digital-Reportage "Tod einer Rebellin".

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