Organspende:Der Mensch gehört nicht dem Staat, er gehört sich selbst

Organspende-Skandal Göttingen

Der Körper des Menschen gehört nicht dem Staat und nicht der Gesellschaft.

(Foto: Emily Wabitsch/dpa)

Bei der Organspende geht es um Fundamentalfragen. Die von Gesundheitsminister Spahn vorgeschlagene Widerspruchslösung wird dem nicht gerecht. Sie widerspricht dem Grundgesetz.

Kolumne von Heribert Prantl

Es gibt eigentlich nur zwei Themen, über die es sich zu reden lohnt: Das eine Thema ist die Liebe, das andere der Tod. Deshalb ist das Reden, deshalb ist die Auseinandersetzung über die Organspende so bedeutsam, so gewichtig, tiefgreifend und existenziell. Es geht hier nämlich um beide Themen, um die Liebe und um den Tod.

Es geht hier um Liebe in der Form der Nächstenliebe; die Organspende ist Inbegriff der Solidarität und des Humanen. Zugleich geht es um den Tod, der bei der Organspende immer im Raum steht; es geht um den Tod des Spenders; dieser ist Voraussetzung für die Organspende "post mortem", über die der Bundestag in den nächsten Wochen zu entscheiden hat. "Nach meinem Tod" steht heute im Organspendeausweis der Menschen, die für den Fall des Falles ihre Erklärung zur Organspende abgeben. Aber: Wann ist der Mensch tot? Wie bereitet er sich darauf vor? Wann darf also ein Organ entnommen werden? Das sind Fundamentalfragen. Sie müssen fundamental diskutiert und beantwortet werden.

Die "Explantation", also die Entnahme von Organen, von Augen, Herz, Niere oder Gliedmaßen, aus einem Körper ist ein ungeheuer massiver Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, die auch dem sterbenden und dem toten Menschen zusteht. Es berührt daher die letzten Dinge, es berührt Menschenwürde und Totenruhe, wenn der Gesetzentwurf des Gesundheitsministers Jens Spahn mit der sogenannten Widerspruchslösung jeden Menschen zum potenziellen Organspender macht - einen jeden, der einer Organentnahme nicht rechtzeitig widersprochen hat.

Darf das der Staat? Darf er das Selbstbestimmungsrecht des Menschen an sich ziehen, weil der sich nicht in klarer Weise geäußert hat? Darf mich der Staat zwangsweise zum Organspender machen, nur deswegen, weil ich es versäumt oder mich geweigert habe, mich mit meinem eigenen Tod zu befassen? Weil ich es womöglich nicht verkraftet habe, mir meinen eigenen sterbenden, lebensunfähigen, toten Körper vorzustellen? Darf der Staat diese Scheu als angebliche Bequemlichkeit bezeichnen und beiseiteschieben? Darf der Staat stellvertretend für mich rational und nüchtern sein, weil ich es nicht bin? Es gibt keine emotionaleren Themen als die Liebe und den Tod. Darf der Staat meine Beklemmung ersetzen durch seine Entschlossenheit, Logik und Nützlichkeitserwägungen? Darf er mich meiner Organe entäußern, weil ich mich dazu nicht geäußert habe?

Der Mensch gehört nicht dem Staat, nicht der Gesellschaft. Er gehört sich selbst

Ein solcher staatlicher Zwangsakt passt schon nicht zu dem Wort Spende. Eine Spende, die nicht dem freien Willen entspringt, ist keine Spende, sondern verordnete, also erzwungene Solidarität. Der Staat denkt ja auch nicht daran, einen Teil des Vermögens eines Verstorbenen zu konfiszieren, um es dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen zur Verfügung zu stellen - also einem guten Zweck, der Lebensrettung. Auch hier ließe sich sagen: "Der hätte ja rechtzeitig Widerspruch einlegen können." Der Staat darf mir meinen Körper nicht wegnehmen, er darf es noch sehr viel weniger, als er Grundstücke enteignen darf. Er darf es nicht einmal zum allerbesten Zweck, auch nicht, um einen Mangel an Spenderorganen zu beheben und Leben zu retten.

Wem gehört der Mensch? Er gehört sich selbst. Der Körper gehört nicht dem Staat, er gehört nicht der Gesellschaft. Er ist das Aller-Ureigenste des Menschen. Der Mensch hat nicht nur einen Körper, er ist ein Körper. Der Mensch kann sich ohne seinen Körper nicht denken. Und er ist nicht nur Gehirn; das Gehirn ist ein Organ, kein autonom lebendiges Wesen. Es ist nicht hoch genug zu würdigen, es ist Selbsthingabe, wenn ein Mensch im Fall des Hirntodes bereit ist, Organe zu spenden, um einem anderen, der ihm in der Regel fremd ist, das Leben zu retten. Aber dieser Rettungsakt darf nicht dekretiert werden. Es würde dann aus einem Akt der Nächstenliebe eine staatlich befohlene Opferung.

Sterben ist ein Prozess. Die Organspende verkürzt diesen Sterbeprozess. Das geht nur mit der ausdrücklichen und freien Zustimmung dieses Menschen. Schweigen ist keine Zustimmung. Sie kann hier auch nicht als Zustimmung interpretiert werden. Das wäre Missachtung der Ehrfurcht vor dem Sterben. Nun heißt es, ein Widerspruch sei doch nur eine kleine Mühe; ein solches "Nein" zur Organentnahme zu formulieren, sei daher jedem Menschen zuzumuten. Es wäre aber die Umkehrung jeglichen Rechtsverständnisses, wenn man gezwungen würde, das Normale, das Selbstverständliche, also die Achtung von Integrität, Unantastbarkeit und Selbstbestimmung durch eine Erklärung erst sicherstellen zu müssen.

Darf ein Mensch gezwungen werden, sich vor Augen zu halten, dass ihm die Augen entnommen werden, dass sein Herz ausgelöst wird, dass Gliedmaßen abgeschnitten werden? Man mache sich nichts vor: Wenn man sich selbst als Organspender denken soll, hat man solche Bilder im Kopf. Jeder Mensch hat aber das Recht, vom Staat in Ruhe gelassen zu werden mit solchen Bildern und den Fragen, die sich damit verbinden. Ist das Feigheit? Selbst wenn: Der Mensch darf auch feige sein.

Es gibt Menschen, die sich ihr Nein zur Organspende hart erarbeiten. Sie arbeiten sich in die Tiefen des Themas ein, spüren Skrupel auf, posten Horrorvorstellungen von den letzten Stunden des Organspenders, in denen ihm womöglich Schmerzen zugefügt werden. Sie haben Zweifel, ob sie wirklich nichts mehr spüren, wenn sie für hirntot erklärt worden sind; sie legen deshalb Widerspruch ein. Es gibt andere Menschen, die weichen der Auseinandersetzung aus, sie informieren sich gar nicht - und sagen Nein zur Organentnahme oder aber gar nichts. Ist das eine Nein legitim, das andere illegitim? Es ist ein Gewaltakt, Menschen unter Druck zu setzen, sich Vorstellungen von Explantationen und Amputationen an seinem beatmeten sterbenden Leib auszusetzen. Ein gesunder Mensch, in Vollbesitz seiner Kräfte, wird das vielleicht nicht so schlimm finden. Ein Mensch, der in einer Lebenskrise ist, wird das womöglich nicht aushalten.

Die Widerspruchslösung widerspricht dem Hauptsatz des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Der Satz gilt auch im Sterben. Diese Würde ist nicht staatlich explantierbar.

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Kolumne von Heribert Prantl

Heribert Prantl ist seit 1. März 2019 Kolumnist und ständiger Autor der Süddeutschen Zeitung. Zuvor leitete er das Ressort Meinung sowie die Innenpolitik und war Mitglied der Chefredaktion. Alle seine Kolumnen finden Sie hier.

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