Süddeutsche Zeitung

Widerspruch oder aktive Zustimmung:Bundestag streitet über Organspende

  • Der Bundestag debattiert Gesetzentwürfe zur Organspende.
  • Nach der sogenannten Widerspruchslösung von Gesundheitsminister würde jeder Bundesbürger zum Organspender, der nicht ausdrücklich widerspricht.
  • Andere wollen hingegen, dass die Bürger immer wieder mal zur Organspende befragt werden - und sich dann bewusst entscheiden.
  • Die AfD hat einen eigenen Antrag eingebracht. Die Partei will unter anderem wissen: "Wie können Sie einem Toten lebende Organe entnehmen?"

Von Kristiana Ludwig, Berlin

Am Mittwochnachmittag geht es um das Schicksal. Sabine Dittmar von der SPD spricht über das Schicksal des sechsjährigen René aus ihrem Wahlkreis Bad Kissingen. René sei schwer krank, er warte auf ein Spenderherz. Doch in Deutschland stehen mehr als 9000 Menschen auf der Warteliste für eine Organspende.

Deshalb hätten Renés Eltern den Wohnsitz gewechselt, die Familie sei jetzt in Barcelona gemeldet, sagt Dittmar. Denn in Spanien gilt die Widerspruchslösung für Organspenden: Wer es vor seinem Tod nicht anders vermerkt, wird am Lebensende automatisch zum Spender. Genau das fordern nun auch etwas mehr als 200 Bundestagsabgeordnete für Deutschland. Doch fast genauso viele lehnen dies ab.

Zwei Gesetzentwürfe stehen zur Debatte, über die schon in den vergangenen Monaten viel gestritten worden ist. Nachdem Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) im letzten Herbst in der Bild-Zeitung gefordert hatte, dass jeder Bürger Organspender werden sollte, der nicht vor seinem Tod widerspricht, diskutierte der Bundestag Ende November zum ersten Mal ohne Fraktionsdisziplin über diese Idee.

Eine Gruppe von Abgeordneten um die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock und Linken-Chefin Katja Kipping formulierte anschließend einen Gegenvorschlag: Jedes Mal, wenn Bürger ihren Personalausweis verlängern, sollen sie von Mitarbeitern der kommunalen Ämter darauf angesprochen werden, ob sie nach dem Tod Organe spenden wollen. Falls der Angesprochene bejaht, soll er sich in ein Online-Register eintragen, gleich vor Ort oder zu Hause am eigenen Computer oder Smartphone. Dies wäre eine nachdrückliche Erinnerung - aber eben keine Widerspruchslösung.

Hilde Mattheis (SPD), die den Alternativvorschlag mit Baerbock eingebracht hat, spricht deshalb ebenfalls über das Schicksal. Das eines jungen Motorradfahrers, der tödlich verunglückte und sich noch nie mit dem Thema Organspende befasst hatte. "Ich möchte mir die Situation nicht vorstellen", sagt Mattheis, in der die Eltern im Krankenhaus selbst entscheiden können, ob sie eine Organentnahme bei ihrem Sohn erlauben. Da wird es laut im Plenarsaal.

Das sei unlauter, rufen die Vertreter des Spahn-Vorschlags. Ihr Gesetzentwurf sieht eine sogenannte doppelte Widerspruchslösung vor: Wenn ein Mensch nicht zu Lebzeiten einer Organspende widersprochen hat, sollen Ärzte verpflichtet sein, den "nächsten Angehörigen" des Verstorbenen zu befragen. Wenn diese von einem ausdrücklichen Widerspruch des Patienten wissen, könnten auch sie eine Organentnahme verbieten.

Trotzdem setze diese Methode "auf die Uninformiertheit und Trägheit der Bevölkerung", kritisiert Kirsten Kappert-Gonther von den Grünen, die wie ihre Parteichefin bloß für eine "Stärkung der Entscheidungsbereitschaft" ist. Wenn es nach ihrer Gruppe geht, sollte der Motorradfahrer künftig schon beim Erste-Hilfe-Kurs für seinen Führerschein von Organspenden erfahren haben.

Während in der ersten Orientierungsdebatte im November zweifelnde Stimmen wie die von Kappert-Gonther überwogen, hat Spahns Gruppe nun im Vorfeld etwas mehr Unterstützer gesammelt als der Entwurf von Baerbock. Die Abgeordneten hatten bis Dienstag Zeit, einen der Entwürfe zu unterzeichnen. Spahn sammelte 222 Unterschriften, Baerbock 191. Dementsprechend bekam die Gruppe der Widerspruchslösung auch in der Debatte am Mittwoch einen Redebeitrag mehr zugesprochen als ihre Gegner.

"Es geht nicht ums Gewinnen", sagt Spahn kurz vor Beginn der Debatte in die Fernsehkameras. Und setzt sich dann in die vierte Reihe des Plenums, um erst kurz vor Schluss zu sprechen. Die Auftaktrede überlässt er Georg Nüßlein (CSU). Auf der Regierungsbank sitzen bei dieser Debatte bloß Ministeriumsbeamte, die in den mehr als zwei Stunden Aussprache ihre Akten studieren.

So tragisch die Schicksale der Menschen, die auf ein Spenderorgan warten, auch sind, so schwer sind die Rechte der Bürger abzuwägen, das wird in dieser Debatte deutlich. "Für mich hat das Grundrecht auf Leben einen höheren Stellenwert als das Recht auf Nichtbefassung mit einer Thematik", sagt Dittmar.

Die Abgeordneten sprechen aber auch über das Recht, in Dinge einzuwilligen, so, wie es beim Datenschutz der Fall ist. Baerbock nennt die Widerspruchslösung einen "unverhältnismäßigen Eingriff", Niema Movassat (Linke) spricht über Menschenwürde.

Die Redner der AfD formulieren es drastischer, sie sprechen über Ängste: "Wie können Sie einem Toten lebende Organe entnehmen?", sagt Ulrich Oehme. Seine Fraktion hat einen eigenen Antrag eingebracht und plädiert dafür, dass die Bevölkerung genauer über "die grundlegenden Fragen der Todesfeststellung und den medizinischen Verfahrensablauf" aufgeklärt werden sollte.

Wenn die AfD geschlossen für diesen Vorschlag stimmt, blieben noch rund 200 Abgeordnete übrig, die sich bisher noch nicht für eine Seite entschieden haben. Ob ein neues Organspendegesetz eine Mehrheit bekommt, wird also erst nach der Sommerpause klar, bei der finalen Lesung.

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SZ vom 27.06.2019/gal
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