Süddeutsche Zeitung

Transplantationen:Schweizer entscheiden über Gesetz zur Organspende

Wer nicht zu Lebzeiten widerspricht, gilt als Spender - so soll ein Gesetz in der Schweiz künftig die Organspende regeln. Aber funktioniert das? Kritiker haben dazu ein Referendum durchgesetzt.

Von Isabel Pfaff, Bern

Was Organspenden angeht, ist Spanien weltweit einsame Spitze. Fast 50 Spenden pro eine Million Einwohner gab es dort 2019. In der Schweiz waren es im selben Jahr nur gut 18 (und in Deutschland gerade mal elf). Nach dem Tod anderen, schwer kranken Menschen die eigenen Organe zur Verfügung zu stellen, ist in Spanien also fast so etwas wie die Norm. Was macht das Land anders?

Was als Erstes auffällt: In Spanien gilt die Widerspruchslösung, also der Grundsatz, dass alle Menschen grundsätzlich Organspenderinnen und -spender sind, solange sie dem nicht zu Lebzeiten widersprochen haben. In der Schweiz und auch in Deutschland gilt dagegen die Zustimmungslösung: Man muss einer Organspende zu Lebzeiten explizit zugestimmt haben, über einen entsprechenden Ausweis oder den Eintrag in ein Register. Die beiden Länder gehören in Europa zu den letzten mit diesem Modell.

Deutschland hat in den vergangenen Jahren intensiv über einen Wechsel zur Widerspruchslösung diskutiert, um die Zahl der Spenderorgane zu erhöhen. Letztlich blieb es aber bei der Zustimmungslösung, ergänzt um die neue Regel, dass Menschen regelmäßig zu ihrer Bereitschaft zur Organspende befragt werden. Nun steckt die Schweiz in derselben Debatte: Regierung und Parlament haben das Transplantationsgesetz dahingehend geändert, dass künftig eine erweiterte Widerspruchslösung gelten soll - heißt: Wer nicht zu Lebzeiten widersprochen hat, gilt grundsätzlich als Spender. Die Angehörigen haben allerdings ein Vetorecht, wenn der Wille des Verstorbenen nicht dokumentiert ist.

Gegen die Reform haben Kritiker Unterschriften gesammelt und so ein Referendum durchgesetzt. Am 15. Mai stimmt die Schweiz darüber ab - und die Eidgenossen fragen sich deshalb seit Wochen, wem sie glauben sollen: den Befürwortern, die überzeugt davon sind, dass die Widerspruchslösung die Spenderate nach oben treibt, oder den Gegnern, die genau das infrage stellen und die neue Regelung für einen zu starken Eingriff in das Recht auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit halten.

Auf den ersten Blick vermitteln die Spenderaten in Europa ein relativ eindeutiges Bild: Spitzenreiter wie Spanien, Portugal, Frankreich oder Belgien praktizieren die Widerspruchslösung, auf den hinteren Rängen findet man vor allem Länder mit Zustimmungslösung, darunter neben Deutschland und der Schweiz auch Irland oder Dänemark. Allerdings: Luxemburg zum Beispiel kam 2019 trotz Widerspruchslösung auf nur acht Spenden pro Million Einwohner, und in Island (das inzwischen auch zur Widerspruchslösung übergegangen ist) gab es auch mit Zustimmungsmodell ungefähr gleich viele Spenden pro Million Einwohner wie in Österreich, wo die Widerspruchslösung schon seit den Achtzigern gilt.

Es gibt Hinweise, dass ein Widerspruchsmodell die Spenderate positiv beeinflussen könnte

Dass die Sache nicht so eindeutig ist, weiß auch der Bundesrat, die siebenköpfige Schweizer Regierung. Eine 2018 veröffentlichte Studie der Uni Zürich im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit kam zu dem Schluss, dass es keine klare Evidenz für einen direkten Kausalzusammenhang zwischen Widerspruchslösung und Spenderate gebe - auch wenn sich die Hinweise, dass ein Widerspruchsmodell die Spenderate positiv beeinflussen könnte, "verdichtet" hätten. Die Studie zählt zu den zentralen Argumenten der Gegnerinnen und Gegner der Reform.

In den Abstimmungsunterlagen räumt der Bundesrat entsprechend ein, dass neben der Art und Weise der Willensäußerung auch andere Faktoren die Zahl der Organspenden erhöhen könnten, "etwa die Ressourcen in den Spitälern und die Ausbildung des Fachpersonals". Die Widerspruchslösung sei eben "ein Mosaikstein unter vielen", um die Spenderate zu erhöhen, betonen Befürworterinnen wie die FDP-Politikerin Regine Sauter: Sie führe nicht allein zum Erfolg, könne aber entscheidend dazu beitragen.

Fakt ist, dass die Schweiz schon seit einigen Jahren eine Zunahme bei den Organspenden verzeichnet, auch mit dem Zustimmungsmodell. Eine wichtige Rolle dabei dürfte der von der Regierung 2013 lancierte Aktionsplan "Mehr Organe für Transplantationen" gespielt haben, der bis 2021 lief und in dessen Rahmen die Strukturen der Schweizer Krankenhäuser besser auf eine Spende ausgerichtet wurden. Seither ist das Thema Organspende Teil der Ausbildung des medizinischen Personals, und jedes Krankenhaus kann sich über die Krankenkassen eine lokale Koordinationsperson finanzieren lassen. Die gestiegene Schweizer Spenderate legt nahe, dass diese Maßnahmen sicher nicht falsch waren.

Dass die Regierung und eine überwältigende Mehrheit im Schweizer Parlament quasi obendrauf noch die Widerspruchslösung wollen, hängt vor allem mit den Umfragen zusammen, die es zum Thema Organspende gibt: Demnach ist eine Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer - zwischen 53 und 74 Prozent - bereit, die eigenen Organe zu spenden. Einen Spenderausweis besitzen dagegen nur gut 16 Prozent. Bundesrat und Parlament sehen deshalb viel ungenutztes Spendenpotenzial und wollen mit der Widerspruchslösung "die Chancen jener Menschen verbessern, die auf ein Organ warten". Das waren Ende 2021 in der Schweiz 1434 Personen. 72 Menschen auf der Warteliste starben in jenem Jahr.

Eine Mehrheit der Schweizer geht nun offenbar davon aus, dass die Widerspruchslösung diese Zahl tatsächlich verringern könnte: Umfragen zufolge könnten mehr als 60 Prozent am 15. Mai für die Reform stimmen.

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