Bundestagsdebatte zur Organspende:"Eine Zumutung, die Menschenleben rettet"

  • Der Bundestag hat darüber debattiert, wie die Zahl der Organspender erhöht werden kann. Gleich zwei Anträge galten als aussichtsreich.
  • Ein weitreichender Entwurf einer Gruppe Parlamentarier um Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) forderte, dass jeder zum Organspender wird, der nicht ausdrücklich etwas anderes festgelegt hat.
  • Ihr Antrag fand keine Mehrheit.

Von Hannah Beitzer, Markus C. Schulte von Drach und Philipp Saul

Der Bundestag hat heute über eine mögliche Neuregelung der Organspende entschieden. Den Abgeordneten lagen zwei Vorschläge vor, die Aussicht hatten, angenommen zu werden, und hinter denen sich jeweils Politiker verschiedener Parteien versammelten. Beide Gesetzentwürfe hatten das Ziel, die Zahl der Organspender zu erhöhen. In Deutschland warten derzeit etwa 9000 Menschen auf ein Spenderorgan.

Eine Gruppe Parlamentarier um Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und den SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach plädierte für die doppelte Widerspruchslösung. Danach wird jeder zum Organspender, der zu Lebzeiten nicht ausdrücklich etwas anderes festgelegt oder seinen Angehörigen mitgeteilt hat. Auch die Angehörigen selbst sollten in diesem Fall allerdings widersprechen können. Das bisherige Prinzip, wonach nur diejenigen Organspender sind, die selbst oder deren Angehörige ausdrücklich zustimmen, würde damit umgekehrt.

Parlamentarier wie die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock plädierten dafür, die bisherige Lösung, wonach nur Organspender wird, wer sich ausdrücklich dafür entscheidet, beizubehalten - und innerhalb der Regelung Verbesserungen vorzunehmen. Von ihnen kam der zweite Antrag.

Am Ende wurde der weitreichende Vorschlag der Gruppe um Jens Spahn abgelehnt, der Antrag der Abgeordenten um Annalena Baerbock dagegen angenommen. Wie bei ethischen Themen üblich, konnten die Abgeordneten unabhängig von ihrer Fraktionszugehörigkeit entscheiden. 24 Redner standen auf der Liste. In den Redebeiträgen wird deutlich, wie sehr das Thema die Abgeordneten bewegt, wie sie Argumente abwiegen, sich die Entscheidung nicht leicht machen. Wir protokollieren eine Auswahl der Beiträge.

Karl Lauterbach, SPD

Die Debatte eröffnet der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach. "In Deutschland sterben jedes Jahr mehr als 1000 Menschen auf der Warteliste auf ein Organ", sagt er. In den Nachbarländern, die bereits die Widerspruchslösung haben, gebe es zwei- bis dreimal so viele gespendete Organe. Dabei sei die Spendebereitschaft in Deutschland eigentlich hoch: 85 Prozent aller Deutschen stünden der Spende positiv gegenüber. "Die Bereitschaft ist da", sagt Lauterbach. "Es fehlt eine einfache, unbürokratische Form, wie man zum Spender wird." Die sieht er in der Widerspruchslösung.

Argumente, man dürfe Menschen nicht zur Spende zwingen, versteht er nicht. "Es gibt keine Pflicht zur Spende. Es gibt eine Pflicht, Nein zu sagen." Von Menschen, die selber ein Organ wollen, aber selbst nicht spenden wollen, könne man wenigstens den Mut verlangen, Nein zu sagen.

Hilde Mattheis, SPD

Als erste Befürworterin des Antrags der Abgeordneten um Annalena Baerbock tritt Hilde Mattheis von der SPD an. Die Gruppe will am bisherigen Prinzip festhalten. Ihr Vorschlag ist, die Bürger regelmäßig über Organspende aufzuklären, beispielsweise bei der Beantragung des Personalausweises. Dabei sollen sie dazu angehalten werden, ihr Ja oder Nein zur Organspende in einem Online-Register festzuhalten.

Mattheis betont, es gäbe keinen signifikanten Zusammenhang zwischen einer Widerspruchslösung und der Spendenzahl. "Eine Spende muss eine Spende bleiben", fordert sie. "Ein aktiver, freiwilliger und selbstbestimmter Akt von Menschen, die in einem Höchstmaß von Solidarität anderen Menschen etwas geben."

Vor allem dürften die Angehörigen nicht zu Zeugen degradiert werden, indem ihnen jeder Einfluss genommen würde. "Angehörige müssen mit dem, was da passiert ist, weiterleben. Sie brauchen eine Möglichkeit, sich zu artikulieren", sagt Mattheis, die im Ausschuss für Gesundheit sitzt.

Detlef Spangenberg, AfD

Als dritter Redner folgt der AfD-Abgeordnete Detlef Spangenberg. Die AfD hat einen eigenen Antrag eingebracht. Sie will unter anderem eine unabhängige Institution beauftragen, Organe zu vermitteln. "Vertrauen ist das wichtigste bei diesem hochsensiblen Thema", sagt er. Er erinnert an die Organspendeskandale der vergangenen Jahre - und warnt: "Die Widerspruchslösung ist die faktische Enteignung des menschlichen Körpers."

Man müsse nicht nur die Freiheit dessen schützen, der ein Organ braucht. Sondern auch derer, die sich nicht damit beschäftigen möchten, ob sie ein Organ spenden möchten. "Wir haben auch nicht das Recht, über Ängstliche und Zögernde die moralische Keule zu erheben." Stattdessen müsse man um die Menschen werben, die noch nicht bereit sind, diesen Weg zu gehen.

Claudia Schmidtke, CDU

Die Ärztin Claudia Schmidtke von der CDU, Mitglied im Gesundheitsausschuss, tritt betont sachlich für die Widerspruchslösung ein mit dem Hinweis, heute sei es möglich, dass Menschen mit ihrem Tod anderen Menschen das Leben retten könnten. Angesichts der vielen europäischen Länder, die diese Widerspruchslösung eingeführt haben, müsste auch Deutschland endlich über den Tod reden, den man schon lange zu ignorieren versuche. Die Widerspruchslösung, so Schmidtke, respektiere die Entscheidung jedes Einzelnen. Aber "nur bei ihr hat das Leben den Stellenwert, der unserer Gesellschaft guttut."

Annalena Baerbock, Grüne

Annalena Baerbock, Parteivorsitzende der Grünen, ist eine der bekanntesten Unterstützerinnen der "erweiterten Entscheidungslösung". "Wir sind hier, um Leben zu retten", sagt sie. "Das eint beide Gesetzesentwürfe." Es gebe verschiedene, durchweg berechtigte Sichtweisen: die der Eltern, die auf ein Spenderorgan für ihr Kind warten. Die der Angehörigen, die nicht wollen, dass ihren Lieben Organe entnommen werden sollen.

"Aus meiner Sicht verkennt die Widerspruchsregelung, dass man nicht einfach die Situation aus anderen Ländern kopieren kann", sagt Baerbock. In anderen europäischen Ländern gelte zum Beispiel der Herztod als Todeszeitpunkt - in Deutschland nicht. Zudem sei auch das Meldesystem der Krankenhäuser in Deutschland mangelhaft. Nur 8,2 Prozent der verfügbaren Organe würden dort überhaupt gemeldet.

Über allem stehe aber das Selbstbestimmungsrecht eines jeden Einzelnen. "Deswegen muss man immer das mildeste Mittel wählen, um ans Ziel zu kommen." Es gehe in ihrem Antrag nicht nur darum, mehr Infobroschüren zu verteilen - sondern den 84 Prozent willigen Menschen die Organspende im Falle des Todes zu erleichtern. Dazu gehörten einfache Registrierungsmöglichkeiten ebenso wie mehr Informationen - und bessere Zugriffsmöglichkeiten auf die Spenderliste für die Krankenhäuser.

Hermann Otto Solms, FDP

"Für mich und die Freien Demokraten zusammen steht die Selbstbestimmung des Einzelnen im Vordergrund", sagt Hermann Otto Solms von der FDP. Er selbst habe sich deshalb lange geprüft und sei zu dem Ergebnis gekommen: Ja zur Widerspruchslösung. Es ändere sich doch nur eines. "Man macht nicht von seinem Recht auf Zustimmung Gebrauch, sondern von seinem Recht auf Zuspruch."

Solms verwehrt sich gegen die Behauptung, die Widerspruchslösung würde die persönliche Freiheit einschränken. "Die Bürger werden nur aufgefordert, von dieser Freiheit Gebrauch zu machen."

Christine Aschenberg-Dugnus, FDP

Auf Solms folgt abermals eine Rednerin der FDP: Die Gesundheitspolitikern Christine Aschenberg-Dugnus. Anders als ihr Vorredner will sie aber an der bisherigen Form festhalten, wonach sich Menschen bewusst für eine Organspende entscheiden müssen.

Georg Nüsslein, CSU

Georg Nüsslein, stellvertretender CSU-Fraktionschef, erklärt, die doppelte Widerspruchslösung mache es für alle sehr einfach. Jeder könne einem Angehörigen sagen: Ich will das nicht. Nicht einmal zum Amt müsse man gehen. Die Widerspruchslösung nehme den Menschen also nicht die Freiwilligkeit der Entscheidung. Es gebe nur keine Freiwilligkeit mehr, sich nicht wenigstens einmal zu entscheiden.

Robby Schlund, AfD

Robby Schlund von der AfD kritisiert die Widerspruchslösung als "inakzeptablen Eingriff in die freiheitlichen Grundrechte", bei der die Eigenverantwortung der Menschen durch Fremdverantwortung des Staates ersetzt würde. Er empfiehlt Regelungen zu schaffen, die Vertrauen in die Institutionen wieder herzustellen - das ist Gegenstand des Antrags der AfD.

Kathrin Vogler, Linke

In der heutigen Debatte wechseln sich die Vertreter der verschiedenen Anträge ab. Die Linken-Abgeordnete Kathrin Vogler, Befürworterin der bisherigen Regelung, bringt ein neues Argument in die Diskussion ein: Der Antrag von Gesundheitsminister Jens Spahn gehe davon aus, dass jeder Mensch die Entscheidung zum Nein treffen könne. Es sei aber nicht jeder in der Lage, eine so weitreichende Entscheidung zu reflektieren und zu treffen: funktionale Analphabeten, Wohnungslose, Menschen, die Sprache nicht sprechen, Menschen, die von Depression gelähmt werden - für sie alle wäre die Widerspruchslösung eine Zumutung. "In meiner Lebenswelt haben auch 18-Jährige anderes im Kopf, als sich mit der eigenen Sterblichkeit auseinandersetzen", sagt sie. "Und sie haben auch das Recht dazu."

Thomas Oppermann, SPD

In einer Debatte wie dieser, in der die Vertreter einer Fraktion unterschiedlicher Meinung sind, fällt immer das Bemühen auf, Verständnis für die andere Seite aufzubringen. So bei Thomas Oppermann, Befürworter der Widerspruchslösung: "Ich kann durchaus verstehen, dass manche Menschen ein Unbehagen verspüren, wenn sie sich mit ihrem eigenen Tod auseinandersetzen", sagt er. Um dann doch ordentlich auszuteilen: Wer das Recht, in Ruhe gelassen zu werden, über alles stelle - der stelle das auf sich selbst bezogene, egoistische Individuum in den Vordergrund, und nicht das Leben. Das zieht einige wütende Zwischenrufe nach sich.

Gitta Connemann, CDU

Berührend ist die Diskussion besonders dann, wenn das Schicksal einzelner Menschen in den Vordergrund rückt. So bei Gitta Connemann, CDU, Befürworterin der Widerspruchslösung. "Haben Sie schon einmal auf einen Anruf gewartet, der Ihr Leben verändern kann?", fragt sie. Sie berichtet von einem Mitarbeiter, 33 Jahre alt, der einen Monat nach der Geburt seines Kindes lebensbedrohlich erkrankte. "Er hat drei Monate auf einen Anruf gewartet. Der Anruf kam nicht." Der junge Vater starb.

Kirsten Kappert-Gonther, Grüne

Für die Ärztin Kirsten Kappert-Gonther ist ausschlaggebend, dass die Menschen eine freie Entscheidung fällen können - was für viele aber nicht möglich sei. Schweigen, so die Grüne, könne nicht Zustimmung bedeuten, jede Person müsse das Recht haben, sich nicht zu äußern, ohne dass das körperliche oder rechtliche Folgen habe. Sie fordert eine Verbesserung der Strukturen, und plädiert für Vertrauen, Transparenz und Freiwilligkeit.

Paul Viktor Podolay, AfD

Es sei nicht akzeptabel, dass Menschen, die nur hirntot sind, durch die Organentnahme getötet werden, erklärt der AfD-Abgeordnete Paul Viktor Podolay. Die Widerspruchslösung betrachtet er als Auswuchs einer sozialistischen Gesinnung. Angesichts der parteiübergreifenden Unterstützung der Anträge sorgt das für einige Irritationen - die meisten Redner verkneifen sich an diesem Tag parteipolitische Angriffe.

Matthias Bartke, SPD

Im Verlauf der jüngsten Debatten hat Matthias Bartke von der SPD seine Meinung geändert und plädiert nun für die Widerspruchslösung. Er sieht ein großes Problem in der Scheu der Menschen, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen. Daran würde die Zustimmungslösung nichts ändern. Auch würden Angehörige die Frage nach der Organspende so kurz nach dem Tod ihrer Lieben als pietätlos empfinden. Die Widerspruchslösung würde auch ihnen Entlastung bieten.

Katja Suding, FDP

Sie habe lange über die Freiheit nachgedacht, sagt Katja Suding, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der FDP. Der Freiheit scheine ein Zwang zur Entscheidung entgegenzustehen. Sie hat sich trotzdem für die Widerspruchslösung entschieden, auch wenn hier die Selbstbestimmung einschränkt wird. Das täten schließlich viele Gesetze. Es gehe um Menschen, die ohne Organspende nicht weiterleben können, und ihre Angehörigen. Für diese gehe es um Leben und Tod. Man könne und dürfe die Menschen dazu zwingen, sich mit der Frage zur Organspende beschäftigen.

Ulla Schmidt, SPD

Ulla Schmidt, ehemalige Gesundheitsministerin der SPD, ist gegen die Widerspruchslösung. Sie weist einmal mehr darauf hin, dass es eher die Mängel in den Strukturen seien, die zu der zu niedrigen Zahl an Spenderorganen führten. Zu häufig würde in den Krankenhäusern gar nicht geprüft, ob es einen Spenderausweis gebe, und Angehörige würden gar nicht gefragt, ob eine Organtransplantation in Ordnung sei.

Jens Spahn, CDU

Lange Zeit war Jens Spahn von der CDU nicht für eine Widerspruchslösung. Nun, als Gesundheitsminister, hat er seine Meinung geändert. Er begründet das damit, dass das Selbstbestimmungsrecht und die Freiheit, sich nicht entscheiden zu müssen, abgewogen werden müssten gegen das Leid der Patienten und ihrer Angehörigen. "Die Widerspruchslösung ist eine Zumutung, die Menschenleben rettet", sagt Spahn.

Ist diese Zumutung zumutbar, fragt er weiter. Dies sei Kern der Abstimmung heute. "Die doppelte Widerspruchslösung ist eine gesellschaftliche Zustimmungslösung", sagt er. "Wir wollen eine Kultur der Organspende." Nur Veränderungen der Strukturen reichten seiner Meinung nach nicht aus.

Um 11.30 Uhr ist klar: Sein Entwurf, wonach jeder zum Organspender werden soll, der zu Lebzeiten nicht widersprochen hat, wird abgelehnt. Als eine halbe Stunde später klar ist, dass der zweite Antrag eine Mehrheit erhält, läuft Jens Spahn als Erstes zu Annalena Baerbock und schüttelt ihr die Hand.

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