Süddeutsche Zeitung

Organspende:Blanke Verzweiflung

Die Widerspruchslösung ist der falsche Weg, um die Bereitschaft zur Organspende zu erhöhen. Sie würde viel Vertrauen zerstören. Die Menschen müssen aufgeklärt werden - und sich bewusst dafür entscheiden.

Von Christina Berndt

Wer in Deutschland eine Debatte zur Organspende anstößt, wie sie jetzt im Bundestag stattfand, der muss schon sehr verzweifelt sein. Denn die Diskussion über die Einführung einer Widerspruchslösung, nach der jeder Bürger zum Organspender wird, wenn er nicht zu Lebzeiten widersprochen hat, ist nicht nur ethisch und verfassungsrechtlich heikel. Sie ruft noch dazu manche Gegner erst auf den Plan, und sie garantiert nicht einmal die ersehnte Heilung.

Verzweifelt sind die Kranken ganz ohne Frage. Jedes Jahr sterben in Deutschland mindestens tausend Menschen, weil sie nicht schnell genug ein Organ erhalten. Und das, obwohl in Umfragen mehr als 80 Prozent der Bürger die Organspende befürworten. Daher ist es richtig, dass die Politik darüber nachdenkt, wie diese theoretische Spendenbereitschaft zur realen Hilfe für die Patienten werden kann.

Die Widerspruchslösung aber ist der falsche Weg. Auch wenn Befürworter wie Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach gern auf die angeblichen Erfolge im Ausland verweisen, ist ihr kurierender Effekt keineswegs belegt. So hat die Einführung in Schweden 1996 kaum Veränderung gebracht. Und im für seine Spenderzahlen gefeierten Spanien kam es erst 1989 zu einem steilen Anstieg der Organspenden, als das Transplantationssystem umstrukturiert wurde; die Widerspruchslösung gab es da bereits zehn Jahre, ohne dass sie etwas bewirkt hätte.

Ähnliches gilt für die Hoffnung, dass der erforderliche Widerspruch zu einem Kulturwandel führen könnte. Möglich ist das: Wenn man aktiv dagegen vorgehen muss, dass einem im Falle eines vollständigen und irreversiblen Funktionsausfalls des Gehirns ("Hirntod") Organe entnommen werden, dann könnte sich die Überzeugung festigen, dass Organspende das Normale ist und Ablehnung die Ausnahme. Während die Organspende derzeit als außergewöhnlicher altruistischer Akt angesehen wird, könnte sie selbstverständlich werden. Aber ob das wirklich der Fall sein wird? Dazu gibt es keine validen Daten. Selbst die Deutsche Transplantationsgesellschaft führt nur dünne Modellstudien mit amerikanischen Studenten als vermeintlichen Beleg an.

Statt mal eben ein Gesetz zu verabschieden, dessen Folgen niemand absehen kann, wäre es also angeraten innezuhalten. Strukturen wie in Spanien wurden im April vom Bundestag beschlossen. Jetzt gilt es abzuwarten, ob die damit eingeführten Transplantationsbeauftragten in Kliniken, die bessere Vergütung der Ärzte und die Hilfe bei der Hirntoddiagnostik auch in Deutschland so großen Erfolg haben wie in anderen Ländern.

Die Widerspruchslösung ist ein Akt der Verzweiflung - und kein kluger. Sie kann nicht nur Vertrauen zerstören, wie dies in Brasilien und Frankreich geschehen ist; sie greift noch dazu in die Selbstbestimmungsrechte der Bürger ein. Abgesehen von den verfassungsrechtlichen Bedenken: Eine solche Regelung würde das gerade zart wachsende Bewusstsein torpedieren, dass eine informierte Zustimmung von Patienten zu ärztlichen Maßnahmen unerlässlich ist, also ein ausdrückliches Ja nach ausführlicher Aufklärung. Dass ein Patient nicht Nein sagt, reicht nicht aus! Gerade da, wo sich Leben und Tod berühren, gilt es, dieses wichtige Prinzip zu schützen. Die Voraussetzung für ein funktionierendes Transplantationssystem ist Vertrauen, nicht Überrumpelung.

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SZ vom 27.06.2019
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