Orbáns Gesetze:Die Angst der Ungarn wohnt überall

Ungarn ist zu einem Staat geworden, in dem es den Bürgern schlecht geht, die nicht mit der Regierung übereinstimmen. An diesem Dienstag entscheidet die EU darüber, ob das Land wegen der umstrittenen Gesetzesänderungen Strafzahlungen leisten muss. Das Durchgreifen des Staates in sämtlichen Lebensbereichen erinnert an russische Verhältnisse - und macht den Menschen Angst.

Gábor Nemes

Als ich meine letzten Beiträge aus Moskau schrieb, wo ich viele Jahre Auslandskorrespondent für den öffentlich-rechtlichen ungarischen Rundfunk war, wusste ich schon, dass sie Kassandra-Briefe sind, dass ich mit der Schilderung der Putin'schen Wirklichkeit gleichzeitig über Ungarn - oder über Ungarns Zukunft - schreibe. Die Heimat hat mich aber jetzt, bei meiner Rückkehr trotzdem überrascht.

To match Insight HUNGARY/ORBAN

Das totale Durchgreifen der Regierung macht den Ungarn Angst - dabei muss sich Orbán selbst vor einem Aufstand der Bürger fürchten.

(Foto: REUTERS)

Mit dieser diffusen, allgegenwärtigen Angst habe ich nicht gerechnet. Statt der russischen Gleichgültigkeit schlugen mir nun unerwartet politisch motivierte Emotionen entgegen. Gewiss, ich gehöre einem durchpolitisierten Milieu an. Meine Freunde - Kollegen aus dem wieder, wie zur Zeit der realsozialistischen Herrschaft von "oben" kontrollierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk - wurden gefeuert. Oder sie trauern den Gefeuerten nach. Sie sind eingeschüchtert, gedemütigt und ohne jede Ausweichmöglichkeit.

Denn der neue Parteistaat besetzt systematisch alle strategischen Stellungen bei den Medien und zunehmend auch in der privaten Presse. Und wenn man einmal entlassen wurde, also auf der "Liste" steht, kommt man nirgendwo hinein: Alle staatlichen, aber auch kommunalen Medien bleiben einem verschlossen - Big Brother aus Budapest lässt keine Nischen und hat auch keine Informationslücken.

Unliebsame Personen werden entlassen

Im Innenministerium fungiert ein stellvertretender Staatssekretär als oberster Kaderoffizier; er hat bei der Besetzung jedes als wichtig eingestuften Postens das letzte Wort. Und nicht nur in meiner politisch geprägten Medienbranche. Ein Freund von mir, der eine hohe Stelle im öffentlichen Gesundheitswesen innehatte, wurde - trotz seines gültigen Vertrags - entlassen.

Das geht ganz leicht: Man verändert die Organisationsstruktur, manchmal auch nur den Namen der Behörde, oder verwendet einen ähnlichen Trick. Im Falle der öffentlich-rechtlichen Medien wurden zum Beispiel der Rundfunk, zwei Fernsehsender und die Nachrichtenagentur einfach zu einer Firma zusammengewürfelt.

Das ist ungefähr so, als ob man aus der ganzen ARD samt Hörfunk und Fernsehen, gemeinsam mit dem Deutschlandradio, plus dem ZDF und auch noch der Deutschen Presseagentur eine einzige Mammutorganisation mit einer einzigen, von einem Regierungskommissar geleiteten Redaktion schaffen würde. Von so etwas haben selbst die strammsten kommunistischen Agitpropfunktionäre nur geträumt, dies aber nie verwirklichen können.

Doch zurück zu meinem Freund aus dem Gesundheitsbereich. Er hat mit seinem Rausschmiss aus fadenscheinigen Gründen sehr wohl gerechnet: Schließlich wurde er noch von der 2010 abgewählten sozial-liberalen Regierung auf den - übrigens gar nicht politischen, aber hohen - Posten gesetzt. Und ein radikaler Kaderaustausch bei einem Regierungswechsel ist in Ungarn nicht ungewöhnlich - so etwas war auch unter anderen Regierungen gang und gäbe.

Das Neue ist aber das totale Durchgreifen der Regierung und ihrer Hintersassen. Der Freund bekam keine Arbeit. Nirgends, egal, wo er fragte. Anfangs hoffte er noch auf einen Posten als Aufsichtsrat oder Berater, schließlich ist er fachlich hoch qualifiziert. Er hat sich bei halbstaatlichen und auch privaten Unternehmen beworben - aber im Gesundheitswesen mischt der Staat irgendwie immer mit.

Eine lange, düstere Tradition

Nach vielen schmerzhaften Absagen wurde ihm klar: Er muss zurück, dorthin, wo er begonnen hat - als klinisch tätiger Arzt. In einer früher von ihm selbst geleiteten Klinik hat sein Nachfolger ihm unter zahlreichen Bekundungen des Respekts einen Teilzeitjob angeboten. Nach einer Woche hat er das Angebot zurückgezogen - "die da" in der Zentrale sähen diese Einstellung gar nicht gerne, sagte er zur Begründung. "Man" wolle lieber vorsichtig sein.

Kontrolle in neuen Dimensionen

"Man" hat nämlich Angst. Ich kann mich noch erinnern, als ein politisch eher rechts stehender Bekannter sich darüber beklagte, dass er unter dem sozialistischen Minister mehrere Jahre nur stellvertretender Abteilungsleiter war und ungewöhnlich lange auf seinen Chefsessel warten musste. Sicher ist das kein Musterfall für eine Demokratie, aber doch überall gängige politische Praxis. Nur: nach der nationalen Revolution von Viktor Orbán und seiner nationalkonservativen Partei Fidesz verlieren politisch Unliebsame nicht nur ihre kurzfristigen Karriereaussichten, sondern gleich den Arbeitsplatz und darüber hinaus jegliche Chancen im Beruf.

Der Fidesz-Staat hat lange Arme und duldet keinen Widerspruch. In einer Kleinstadtschule wurden drei Lehrer wegen sinkender Schülerzahl entlassen - das Auswahlprinzip jedoch war eindeutig. Die drei "Querulanten" wollten nicht ihre angesparten Privatrentenbeiträge dem Staat anvertrauen und waren deshalb nicht freiwillig aus den von Orbán enteigneten (im offiziellen Sprachgebrauch von den Börsenhaien geretteten) privaten Rentenkassen ausgetreten.

Selbst den selbständigen Unternehmern sitzt mittlerweile die Angst im Nacken. Sie hüten sich davor, unangenehm aufzufallen, wenn sie staatliche Aufträge bekommen oder sich für die von den Behörden mitkontrollierten europäischen Entwicklungsgelder bewerben wollen. Vielleicht wollen sie auch einfach keine andauernden Steuer-, Gesundheits-, Feuerschutz- und sonstigen kreativen Kontrollen, denn die kommen, wenn man zu offen als Gegner der Regierung auftritt.

Düstere Parallelen zu Russland

Das alles kenne ich nur allzu gut aus Russland. Ich kenne die Angst, politisch auffällig zu werden - und ich kenne auch die Angst der Machthabenden, die viel tiefer sitzt und die dann logischerweise im Erdrosseln der Opposition, und Aushöhlen des Rechtsstaats ihren Ausdruck findet.

Nur: In Russland ist das leider der Normalfall, es hat eine lange, düstere Tradition. Und immerhin: Putin konnte seinem Volk bis jetzt zum Ausgleich für den Demokratieentzug auch ein bisschen Geld von den Öl- und Gaseinnahmen des Landes anbieten. Orbán dagegen hat nichts als seine muffigen Parolen, nichts als seine mit dem Mythos der ewigen Opferrolle der Ungarn durchmanipulierte Gefolgschaft.

Und - wie ich glaube - vor allem Angst. Davor, dass die jetzt Eingeschüchterten und Hoffnungslosen eines Tages doch ihre Angst verlieren.

Gábor Nemes war Auslandskorrespondent des ungarischen Rundfunks in Berlin, Warschau, Bonn, Peking und Moskau. Er erhielt unter anderem den ungarischen Pulitzer-Preis.

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