Süddeutsche Zeitung

Serie "Wir sind Europa":Der Priester, der gegen Orbán ankämpft

Einst hat Gábor Iványi den ungarischen Premier getraut und seine Kinder getauft, heute leben sie in verschiedenen Welten. Orbán zunehmend als Autokrat; Iványi als Geistlicher, der sich um jene kümmert, die die Regierung ausgrenzt.

Reportage von Peter Münch, Budapest

Es war gleich zu Beginn des Europa-Wahlkampfs, als sich Viktor Orbán auf die Kanzel begeben hat. Die Eröffnung eines neuen calvinistischen Kirchenbaus in einem Budapester Außenbezirk erschien ihm eine gute Gelegenheit, sich in seiner Lieblingsrolle zu präsentieren: als Retter des christlichen Abendlandes. Vor versammelter Fan- und Glaubensgemeinde wetterte er gegen die "Brüsseler Bürokratie", weil sie "die Islamisierung Europas" vorantreibe. Wie so oft beschwor er die "christlichen Werte" und den Wert der "Nation" - und wenn Gábor Iványi all das hört, und er hört es oft auf allen Kanälen der von der Regierung kontrollierten Medien, dann fährt ein womöglich heiliger Zorn in ihn. "Das ist zum Kotzen", sagt er. "Dieser ganze christlich-nationale Kram ist höchst gefährlich."

Gábor Iványi, 67 Jahre alt und methodistischer Pfarrer, hat den weißen Bart fast bis zum Bauch wachsen lassen. Und auf dem Bauch legt er gern auch die gefalteten Hände ab, wenn er zuhört. Doch wenn er spricht und wütend wird, dann fahren diese Hände schnell mal hoch zum Himmel. "Wir haben vor 75 Jahren gesehen, dass der Nationalismus Europa zum Massengrab gemacht hat. Wenn wir damit wieder anfangen, wird es wieder schlimm werden", warnt er. "Wir sollten uns nicht abschotten und Grenzen hochziehen, sondern in Frieden zusammenleben."

Als Priester predigt er das Christentum, als früherer Politiker und Parlamentsabgeordneter glaubt er an ein zusammenwachsendes Europa. Viktor Orbán aber, so schimpft er, nutzt die von ihm lautstark propagierte "christliche Demokratie" allein zur Abschottung. "Er übt Verrat an den europäischen Werten", sagt er. "Das mit dem Christentum ist doch pure Scheinheiligkeit, ein Witz."

Die Wandlung des Orbán vom liberalen Atheisten zum Nationalisten mit christlichem Antlitz ist tatsächlich eine Metamorphose, die wenige so eng verfolgt haben wie Gábor Iványi. Heute leben sie im selben Land in zwei verschiedenen Welten: Orbán als zunehmend autokratischer Regierungschef; Ivány als Pfarrer, der sich um jene kümmert, die Orbán ausgrenzt: um die Armen, um die Obdachlosen, um die Flüchtlinge. Doch die Anfänge von Orbáns politischem Weg sind die beiden gemeinsam gegangen.

Ende der Achtzigerjahre haben sie sich kennengelernt. Iványi war damals bereits ein bekannter Dissident, der in den kommunistischen Zeiten anno 1968 schon mit 17 Jahren wegen eines als subversiv eingestuften Aufsatzes von der Schule geflogen war, Ärger dann auch im Theologiestudium hatte, zwei Mal kurz im Gefängnis gelandet war und schließlich eine Untergrundzeitung mit herausgegeben hatte. Orbán war ein junger Student, der gerade mit ein paar Kommilitonen den "Bund junger Demokraten", kurz Fidesz, gegründet hatte. "Er war immer laut und wollte immer auffallen", erinnert sich Iványi. "Damals hat er den Liberalen gespielt und vorgetäuscht, jemand anderes zu sein."

Zusammen haben die beiden am Runden Tisch gesessen, der 1990 zu den ersten freien Wahlen in Ungarn führte, und anschießend auch gemeinsam im Parlament. Als Orbán 1993, sieben Jahre nach seiner standesamtlichen Eheschließung, eine kirchliche Hochzeit nachholen wollte, da war es Gábor Iványi, der ihn getraut und auch seine beiden ältesten Kinder getauft hat. "Bereuen tue ich das nicht"" sagt er. "Aber es tut mir leid, was aus ihm geworden ist."

Iványi sitzt in seinem Büro im teils noch schäbigen 8. Budapester Stadtbezirk. Um ihn herum viele Bücher und wenig Ordnung. In der Ecke verstaubt eine Gitarre, auf der Anrichte steht eine jüdische Menora, und an der Wand hängt ein Bild von Königin Elisabeth II. "Handsigniert", sagt er. "Sie war 1993 in Ungarn und für eine Stunde hier bei uns. Anschließend habe ich das Bild bekommen." Von hier aus steuert er die Aktivitäten der von ihm gegründeten "Evangelischen Bruderschaft Ungarns", die landesweit Schulen und Sozialstationen betreibt. Gelobt wird er dafür auch von den Vertretern anderer Glaubensrichtungen, vom katholischen Bischof Miklós Beer aus Vác zum Beispiel oder von den Rabbinern der Jüdischen Gemeinden, mit denen er einen engen Austausch pflegt. Von der Regierung jedoch sieht sich Iványi regelrecht "verfolgt".

Als Orbán 2010, acht Jahre nach dem Ende seiner ersten Amtszeit, erneut zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, da hatte er den Liberalismus längst hinter sich gelassen. Nun sprach er viel von der "Heimat" und von Ungarns ruhmreicher Vergangenheit, aus der er eine glorreiche Zukunft ableitete. "National" und "christlich" sind seither die von ihm verwendeten Schlüsselbegriffe, und was christlich ist, definierte seine Regierung sicherheitshalber selbst. Mit einem neuen Kirchengesetz wurde unter anderem die von Iványi gegründete Bruderschaft von der Liste der staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften gestrichen.

Der in Orbáns Auftrag ausgearbeiteten neuen Verfassung von 2011 wurde als Präambel ein "Nationales Glaubensbekenntnis" vorangestellt. "Wir sind stolz darauf, dass unser König, der Heilige Stephan I., den ungarischen Staat vor 1000 Jahren errichtet und zu einem Bestandteil des christlichen Europa gemacht hat", heißt es darin. Spätestens seit der Flüchtlingskrise von 2015 wird das von Orbán so interpretiert, dass dieses christliche Europa geschützt werden muss vor den anstürmenden Horden des Islam - und als "Bollwerk" bietet er das von ihm regierte und mit hohen Grenzzäunen gesicherte Ungarn an.

Enttäuscht von der Europäischen Volkspartei und Weber

"Die Verteidigung des christlichen Abendlandes ist doch nur ein politischer Trick", meint Iványi. "Das Christentum muss man gar nicht beschützen, schon gar nicht als Ministerpräsident." Ihm komme Orbán vor "wie ein Vater, der zu Hause seine Kinder verprügelt und sich dann öffentlich für Kinderrechte einsetzt". Doch abschrecken lassen will er sich nicht. Wenn die Regierung plötzlich per Gesetz das Leben auf der Straße verbietet, dann rollt er eben in seinem überfüllten Budapester Obdachlosenzentrum noch ein paar Isomatten mehr aus, auf denen sie übernachten können. Und wenn die Regierung den Asylbewerbern, die in einem sogenannten Transitzentrum an der Grenze interniert werden, zur Abschreckung nicht einmal mehr etwas zu essen gibt, dann taucht Iványi dort mit Lebensmitteln auf. "Ich mache meine Arbeit nicht, weil sie von der Regierung unterstützt oder verboten wird", sagt er. "Ich mache das, weil es richtig ist."

Bisweilen aber fühlt er sich dabei doch auf einem einsamen und fast verlorenen Posten. Er klagt über andere Priester, "die stumm sind oder in ihren Kirchen sogar dafür beten, dass der Herr Ministerpräsident an der Macht bleibt". Er ist enttäuscht von der Europäischen Volkspartei (EVP) und ihrem Spitzenkandidaten Manfred Weber, die sich vor der Europawahl nicht dazu entschließen konnten, Orbáns Fidesz-Partei endgültig hinauszuwerfen. "Der arme und tollpatschige Herr Weber ist eigens nach Budapest gekommen und hat nichts erreichen können", meint Iványi.

In Orbáns Wahlkampf für die Sitze im Europaparlament ist tatsächlich nichts zu spüren von Zurückhaltung. Er spielt das alte Spiel mit neuer Kraft. In ganz Budapest prangen die Fidesz-Plakate mit den Farben der ungarischen Flagge und dem Aufruf: "Unterstützen Sie das Programm von Viktor Orbán gegen die Migration." Die Umfragen verheißen Fidesz einen deutlichen Sieg, und auch Iványi hat die Hoffnung verloren, dass von dieser Wahl ein positives Signal für Ungarn ausgeht. Wählen gehen will er trotzdem am 26. Mai. "Wir brauchen doch ein offenes und buntes Europa", sagt er. "Mir ist es egal, wie in den einzelnen Ländern der EU der Schnaps gebrannt wird. Aber in der Frage der Grundwerte und Grundrechte muss Europa gemeinsam auftreten."

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