EU-Gipfel:Immer wieder Orbán

First day of the European Union summit in Brussels

Vorwärtsverteidigung: Viktor Orbán beteuerte vor dem Gipfel in Brüssel, er sei "ein Kämpfer" für die Rechte Homosexueller.

(Foto: Pool/REUTERS)

Der Streit über Ungarns Zensur-Gesetz überschattet den EU-Gipfel. Zwei Stunden wird erhitzt diskutiert, der Niederländer Rutte nennt Orbán "schamlos". Merkel und Macron werben für einen neuen Kurs gegenüber Moskau.

Von Björn Finke und Matthias Kolb, Brüssel

Der Mann, der sich gleich scharfe Kritik anhören soll, sucht den großen Auftritt. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán kommt am Donnerstag vor allen anderen Staats- und Regierungschefs im EU-Ratsgebäude in Brüssel an und verteidigt sein umstrittenes Gesetz gegen die Darstellung nicht-heterosexueller Sexualität. Den Journalisten sagt Orbán, die Kritiker hätten den Rechtsakt gar nicht richtig gelesen. "Ich bin ein Kämpfer für die Rechte" Homosexueller, behauptet der autoritär regierende Ungar.

Das Gesetz, welches das Zeigen nicht-heterosexueller Sexualität in Büchern und Filmen für Jugendliche verbieten soll, steht gar nicht auf der Tagesordnung des zweitägigen EU-Gipfels. Doch beim Abendessen werde man darüber diskutieren, kündigt Ratspräsident Charles Michel an. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nannte das Gesetz schon vorab eine Schande und drohte mit rechtlichen Schritten ihrer Behörde - die allerdings sehr langwierig wären. Direkt vor dem Gipfel veröffentlichten 16 Staats- und Regierungschefs, darunter Bundeskanzlerin Angela Merkel, einen Brief, in dem sie betonen, "weiterhin gegen die Diskriminierung der LGBTI-Gemeinschaft kämpfen" und deren "Grundrechte verteidigen" zu wollen. Die englische Abkürzung LGBTI steht für Lesbisch, Schwul, Bisexuell, Trans, Inter.

Die Kanzlerin ignoriert die Fragen der Journalisten routiniert

Als Merkel im Ratsgebäude ankommt, erwähnt sie das ungarische Gesetz aber gar nicht bei ihrer Ansprache vor Journalisten, deren Fragen sie routiniert ignoriert. Sie spricht lieber über die Pandemie und ihre Sorge vor der Delta-Variante, die etwa in Großbritannien wütet: "Ich werde dafür werben, dass wir noch koordinierter vorgehen, auch gerade bei der Einreise aus Virusvariantengebieten." Die Kanzlerin erwähnt die komplizierten Beziehungen der EU zur Türkei und zu Russland. Hier möchte Merkel eine neue strategische Debatte anstoßen und fragt: "Wie antworten wir geschlossen auf die Provokationen, und wie können wir vielleicht Gesprächsformate herstellen?" Sie gibt sich überzeugt, dass Konflikte am besten zu lösen seien, wenn man miteinander spricht: "Das hat man am US-Präsidenten gesehen."

Es war also wohl der Gipfel zwischen Joe Biden und Russlands Präsident Wladimir Putin in Genf, bei dem in Europa über Europa geredet wurde, der Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bei ihrem Treffen am Freitag im Kanzleramt dazu brachte, in allerletzter Minute ihre Initiative zu starten. Erst am Mittwochmorgen wurde der Vorschlag dem Kreis der EU-Botschafter unterbreitet, was viele Mitgliedsländer und auch Gipfel-Organisator Michel überraschte. Als eine weitere Sitzung der Botschafter gegen 23 Uhr endete, war das Russland-Kapitel der Abschlusserklärung deutlich konkreter und umfangreicher. So wird Moskau daran erinnert, dass die Erfüllung des Minsker Abkommens zur Beilegung des Kriegs in der Ukraine die "wichtigste Voraussetzung für eine substanzielle Änderung der Position der EU" darstelle. Sprich: Russland muss sich aktiv für Frieden einsetzen und darnicht so tun, als sei es keine Konfliktpartei.

Die Textvorschläge sollen Russland-Hardlinern signalisieren: Die Möglichkeit eines Gipfels ist kein Entgegenkommen an Putin. Die Staats- und Regierungschefs sollen die Kommission und den EU-Außenbeauftragten dazu "einladen", Optionen für weitere restriktive Maßnahmen, "einschließlich Wirtschaftssanktionen", zu entwickeln. Sie sollten der Vorbeugung dienen, um schnell reagieren zu können. Dies zeigt auch den Wunsch, nicht ständig wie getrieben auf russische Aktionen zu reagieren, sondern selbst proaktiver zu sein. Ein weiterer Faktor: die Einsicht, dass die bisherigen Strafen mit Kontensperrungen und Einreiseverboten sowie das Ausweisen von Diplomaten zu keinerlei Verhaltensänderung in Russland führen.

Wenig überraschend fordert der aktuelle Entwurf die EU-Staaten zur Geschlossenheit auf, um künftig auf Russlands "böswillige, rechtswidrige und disruptive Aktivitäten" antworten zu können und die eigene Widerstandsfähigkeit zu stärken. So weit wie die Nato, die Russland bei ihrem Gipfel jüngst vorwarf, mit "aggressiven Handlungen" die euroatlantische Sicherheit zu bedrohen und mit "hybriden" Mitteln wie Cyberangriffen gegen Mitglieder des Bündnisses vorzugehen, geht die EU nicht. Aber auch weil 21 der 27 EU-Länder der Nato angehören, überrumpelte die deutsch-französische Initiative viele, die für Härte gegenüber Moskau plädieren.

Die Balten sind nicht begeistert von dem Angebot an Moskau

Neben Polen und Rumänien sind dies vor allem die baltischen Republiken, und deren Vertreter verbergen in Brüssel ihre Skepsis nicht. Lettlands Ministerpräsident Krišjānis Kariņš ist gegen ein direktes Gespräch mit Putin, denn dafür müsste auch Russland etwas tun: "Sonst sieht es so aus, dass Russland die Krim annektiert, einen Krieg in der Ostukraine anzettelt, und Europa zuckt mit den Schultern und sucht weiter den Dialog." Litauens Präsident Gitanas Nausėda sagte über einen EU-Russland-Gipfel: "Wir sollten darüber reden, aber extrem vorsichtig sein."

Als Bereiche möglicher Kooperation werden etwa Klimaschutz sowie Gesundheitspolitik genannt. Vor dem Abendessen, bei dem die außenpolitischen Themen zur Sprache kommen, blieb offen, ob die Schlussfolgerungen die "Prüfung" eines Dialogs auf Spitzenebene mit Russland enthalten. Dass der Kreml das Angebot positiv sieht, dürfte kaum überraschen. Die Treffen zwischen Putin und den Präsidenten der EU-Kommission und des Europäischen Rats waren nach der Annexion der Krim 2014 eingestellt worden. Zustimmung kommt vom Österreicher Sebastian Kurz: "Wenn es dazu kommt, wäre das gut." Der Bundeskanzler betont, dass neben Merkel und Macron auch Spitzenpolitiker kleinerer Länder mit Putin reden würden - und dies sollten auch die EU-Spitzen wieder tun.

Die Debatte über das ungarische Gesetz, die gegen 19 Uhr beginnt und etwa zwei Stunden dauert, verläuft so kontrovers wie erwartet, alle 27 Staats- und Regierungschefs melden sich zu Wort. Schon vor Orbáns forschem Auftritt bei der Ankunft hatte seine Regierung harsch auf von der Leyens Angriffe reagiert. Budapest nannte ihre Kommentare harschen Mitteilung "eine Schande". Es gehe bei dem Gesetz um Kinderschutz und die Rechte der Eltern; niemand werde diskriminiert und von der Leyens Aussagen seien nicht Ergebnis einer unparteiischen Untersuchung. Die Kommissionspräsidentin wiederholt ihre Kritik nach SZ-Informationen auch in der Debatte, während Merkel betont, dass man bei der Menschenwürde keine Kompromisse machen dürfe.

Der Niederländer Mark Rutte, der nur geschäftsführend im Amt ist, hatte Orbán vor Journalisten "schamlos" genannt und fragt diesen in der Sitzung, warum er die EU nicht verlasse. Laut Politico sagt Stefan Löfven aus Schweden, die Steuerzahler seines Landes seien "nicht interessiert, jene mit Geld zu unterstützen, die unsere Werte nicht teilen". Verteidigt wird Orbán vom Slowenen Janez Janša und Mateusz Morawiecki aus Polen. Schon vor der Sitzung hatte sich auch der Luxemburger Xavier Bettel, der mit einem Mann verheiratet ist, klar geäußert: "Wenn irgendjemand glaubt, dass man wegen einer Werbung, einem Film oder wegen einem Buch schwul geworden ist, der versteht ja das Leben nicht."

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