Budapest:Ungarns Parlament verlängert den Ausnahmezustand

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Fordert "Handlungsspielraum": Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, hier bei einer Rede in Budapest im Februar. (Foto: Bernadett Szabo/Reuters)

Der war eigentlich wegen der Corona-Pandemie erlassen worden. Wegen des Krieges im Nachbarland Ukraine lässt Ministerpräsident Orbán sich nun weiter große Machtbefugnisse einräumen. Kritik stört ihn dabei nicht.

Von Cathrin Kahlweit, Wien

Es war die zehnte Änderung des Grundgesetzes, die unter Viktor Orbán vollzogen wurde - und sie war, samt einem Paket von Sondersteuern, schon vor Wochen angekündigt worden. Kurz nach dem Überfall der russischen Armee auf die Ukraine hatte Kanzleramtsminister Gergely Gulyás erstmals von der Notwendigkeit eines "Kriegsnotstandes" gesprochen. Und kurz nach seinem Wahlsieg Anfang April teilte auch Ministerpräsident Viktor Orbán mit, man denke darüber nach, zusätzliche Steuern von Banken und Multis zu erheben, um damit die Deckelung von Nebenkosten, steigende Energiepreise und die Aufrüstung des ungarischen Militärs zu finanzieren.

Nun, nachdem Orbán für seine fünfte Amtszeit vereidigt und sein Kabinett eingeschworen worden war, war es so weit: Ohne größere Debatte und in Windeseile nahm die Zweidrittelmehrheit der Fidesz-Abgeordneten eine Vorlage an, die eine neue, um kriegerische Konflikte erweiterte Grundlage für den Ausnahmezustand enthält. Wenige Stunden später verkündete der Ministerpräsident dann bereits, dass diese in der Nacht zum Mittwoch in Kraft treten werde.

Seine offizielle Begründung lieferte er zuerst per Facebook: Es gelte, keine Zeit zu verlieren, denn in der Ukraine tobe ein Krieg, dessen "Ende niemand absehen" könne. Dieser gefährde, ebenso wie im Übrigen die in Brüssel beschlossenen Sanktionen, die physische Sicherheit, die Energieversorgung und die finanzielle Sicherheit der ungarischen Wirtschaft und ungarischer Familien; eine Weltwirtschaftskrise stehe unmittelbar bevor. Die Regierung brauche "Handlungsspielraum".

Am Mittwoch verkündete Orban dann, wie der Notstand genutzt werden soll: unter anderem mit der Einführung von Sondersteuern auf die Gewinne von Großunternehmen, darunter Banken, Versicherungsgesellschaften, Handelsketten, Energieunternehmen, Telekom-Firmen und Fluggesellschaften. Deren Gewinne aus den Jahren 2022 und 2023 sollen in zwei neu zu schaffende Fonds fließen, die zur Finanzierung der Landesverteidigung und zur Deckelung der Verbraucherpreise dienen sollen.

Ungarn braucht Geld. Denn das größtes Problem der ungarischen Regierung liegt derzeit nicht im Ukrainekrieg, sondern in wachsenden Löcher im Staatshaushalt. Diese resultieren aus teuren Wahlkampfgeschenken im Frühjahr, mehr noch aber aus dem Streit mit Brüssel um Gelder in Milliardenhöhe aus der Regionalförderung und dem Covid-Topf. Diese werden von der EU mit Verweis auf das laufende Rechtsstaatsverfahren zurückgehalten. Die Botschaft des Ungarn am Mittwoch war daher klar: Solange ihr die Gelder nicht freigebt, erhöhen wir die Steuern für europäische und internationale Firmen, die wiederum Druck auf Brüssel ausüben dürften.

Inspektion in schwarzer Montur: Orbán zu Kriegsbeginn an der Grenze zur Ukraine. (Foto: Bernadett Szabo/Reuters)

Der Ministerpräsident hatte seinen Wahlkampf im Frühjahr vor allem mit dem Narrativ bestritten, dass Ungarn durch den Ukrainekrieg unmittelbar bedroht sei und auch seine Mitbürger in Transkarpatien schützen müsse. In der Westukraine leben ungefähr 150 000 ethnische Ungarn; die allermeisten haben auch einen ungarischen Pass. Außerdem habe Ungarn Hunderttausende Flüchtlinge zu versorgen. Tatsächlich sind allerdings die meisten weitergereist oder werden von privaten Organisationen versorgt.

Ungarn lässt keine Waffenlieferungen an Kiew über sein Staatsgebiet zu

In der Frage der Solidarität mit der Ukraine, die in der EU seit Kriegsbeginn ungewöhnlich einig und einheitlich beantwortet wurde, stellt sich Orbán quer: Nicht nur halten sich Staatsmedien mit ihrer Kritik am russischen Vorgehen deutlich zurück; Orbán hat sich zudem mehrmals öffentlich vom ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij distanziert und diesen als "Gegner" und "Schauspieler" diskreditiert. Sein Land werde "nicht den Preis für diesen Krieg zahlen". Ungarn lässt außerdem seit Kriegsbeginn keine Waffenlieferungen an Kiew über sein Staatsgebiet zu. Und blockiert zum großen Ärger der anderen EU-Staaten derzeit auch den Beschluss eines EU-weiten Öl-Embargos gegen Russland. Die Verhandlungen laufen; Orban ist bisher nicht bereit, auf dem Gipfel Anfang kommender Woche über das Embargo auch nur zu sprechen. Notstand und Sondersteuern kommen einer weiteren Provokation gleich.

Die Eile, mit der die jüngste Verfassungsänderung durch- und umgesetzt wurde, ist Teil der Logik des ungarischen Konzepts der illiberalen Demokratie: Fidesz ist zwar seit dem Sieg bei der Parlamentswahl im April so stark, dass Orbán ohnehin durchregieren könnte; die Opposition hatte schon bisher kaum Spielraum, nun ist sie marginalisiert. Allerdings managt er das Land ohnehin schon seit zwei Jahren de faco im Ausnahmezustand; dieser war im Frühjahr 2020 verhängt, mit "Sicherheitsinteressen des Staates" in der Covid-Pandemie begründet und später durch einen mit Sonderbefugnissen versehenen "Gesundheitsnotstand" ersetzt worden.

Die Pandemie aber ebbt ab, die entsprechende Regelung wäre in wenigen Tagen ausgelaufen. Mit dem Krieg im Nachbarland Ukraine fand sich ein neuer Grund dafür, weiter ohne parlamentarische Mitsprache agieren zu können. Nunmehr darf die Regierung "im Falles eines Kriegs oder eines humanitären Katastrophe in einem Nachbarland oder im Falle einer Katstrophe im eigenen Land Notfallmaßnahmen erlassen", bestehende Regelungen aussetzen, von bestehenden Gesetzen abweichen oder per Dekret Verordnungen erlassen.

Die Erregung, die im Ausland bei jeder neuen Verhängung eines Notstandes herrscht, wird in Ungarn selbst fast nur noch von der machtlosen Opposition und einigen Nichtregierungsorganisationen geteilt. Denn der Notstand ist fast schon zum Normalzustand geworden. Und so stimmten jetzt alle 135 Fidesz-Abgeordneten mit Ja, die größte Oppositionspartei, die DK, verweigerte hingegen eine Teilnahme an dem Votum ganz, alle anderen Oppositionsparteien stimmten mit Nein. Die Wochenzeitschrift HVG.hu fragt sich immerhin, aus welchem Grund die neue Orbán-Regierung den "Kriegsnotstand" ausgerufen habe. Eine Erklärung sei womöglich die weitere Einschränkung der freien Meinungsäußerung und der Pressefreiheit.

Der frühere Chef der grünen Partei LMP, Andras Schiffer, sagte dem Fernsehsender ATV, Orbán habe die "Legislative zum Teil eines politischen Schauspiels" degradiert. Er frage sich, so Schiffer, warum nur Multis besteuert würden - und nicht jene ungarischen Unternehmen, die so schön von den Staatsaufträgen der Fidesz-Regierung profitiert hätten. Der Verfassungsjurist Dániel Karsai kritisierte, man hätte die Sondersteuern auch über eine ganz normale Gesetzesänderung einführen können, dafür hätte es keinen Notstand gebraucht.

Vor zwei Jahren, als Fidesz zu Beginn der Pandemie den Covid-Notstand erließ, hatte es noch massive Kritik wegen einer fehlenden zeitlichen Befristung gehagelt; Orbán forderte später eine Entschuldigung "von allen", die ihn und seine Regierung "für das sogenannte Ermächtigungsgesetz kritisiert" hätten. Einen ersten, mehrmals verlängerten Notstand hatte die Orbán-Regierung aber bereits von 2016 bis 2018 erlassen; offizieller Grund damals: die Flüchtlingskrise.

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