EU-Haushalt:Orbán könnte sich verzockt haben

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Viktor Orbán gibt eine Pressekonferenz am Rande des EU-Gipfels. (Foto: dpa)

Kritiker sagen, die Staats- und Regierungschefs hätten zu lasche Regeln beschlossen, was die Verknüpfung von Rechtsstaatlichkeit und Auszahlung von EU-Mitteln betrifft. Ungarns Premier jubelte. Es könnte zu früh gewesen sein.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Nach dem EU-Sondergipfel wird kontrovers über einen der wichtigsten Beschlüsse debattiert: die "Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts" und des Corona-Wiederaufbaupakets. Was sich bürokratisch anhört, soll sicherstellen, dass alle EU-Mitglieder rechtsstaatliche Standards einhalten - und anderenfalls weniger Geld bekommen. Einem solchen Mechanismus, das betonen EU-Ratspräsident Charles Michel und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in seltener Einigkeit, hätten alle Staats- und Regierungschefs zugestimmt. Viele EU-Abgeordnete und Experten beklagen aber eine "Verwässerung". Mit zeitlichem Abstand und mehr Schlaf für alle Beteiligten wird klar, wie komplex die Sache ist - und dass sich Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán womöglich verzockt hat.

Kritiker monieren, dass der Gesetzentwurf der EU-Kommission von 2018 abgeschwächt wurde, wonach sie bei Verstößen gegen rechtsstaatliche Standards die Auszahlung stoppen oder kürzen darf. Es sollte eine qualifizierte Mehrheit nötig sein, um Strafen abzuwenden. Das betroffene Land hätte also mindestens 15 Staaten, die zugleich 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren, überzeugen müssen, dass alles in Ordnung ist. Nach der nun beim Gipfeltreffen beschlossenen Formel müssen dagegen die EU-Staaten mit qualifizierter Mehrheit explizit dafür votieren, Gelder zu kürzen. Diese Schwelle liegt viel höher als im Entwurf der Kommission.

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Der EVP-Fraktionschef kritisiert die Ergebnisse des EU-Sondergipfels zum Haushalt und zum Corona-Wiederaufbaufonds als nicht ausreichend.

Auch weil der Ungar Orbán und der Pole Mateusz Morawiecki öffentlich jubeln, werfen Abgeordnete den Staats- und Regierungschefs vor, "eingeknickt" zu sein. Orbán, der zunehmend autokratisch regiert, wollte unbedingt die Rechtskonditionalität verhindern. Dass in dem Gipfel-Dokument steht: "Der Europäische Rat wird sich rasch mit der Angelegenheit befassen", sehen viele als Beleg, dass sich Orbán ein Veto ausbedungen hat. Denn im Europäischen Rat, wo die Staats- und Regierungschefs sitzen, gilt Einstimmigkeit.

Diese Interpretation wird im Umfeld von Charles Michel bestritten: Es gebe kein Veto-Recht für Orbán oder andere Staats- und Regierungschefs. Denn sie würden in ihrem Gremium gar keine Gesetze schreiben. Das passiere auf Minister-Ebene, wo Ungarn und Polen überstimmt werden können. Denn dort ist nur eine qualifizierte Mehrheit nötig. Am Mittwoch einigten sich die Botschafter der EU-27, auf Basis des strengen Kommissionsvorschlags von 2018 am Rechtsstaatsmechanismus arbeiten zu wollen. Der Vorschlag solle aber "im Licht der Schlussfolgerungen des Rates angepasst werden", sagte ein EU-Diplomat.

In den Gesprächen mit dem EU-Parlament besteht die Option, ein schärferes Instrument durchzusetzen. Auch wenn es bei der qualifizierten Mehrheit bleibt: Es zählt der politische Wille. Als sich Orbán vom Parlament wegen der Corona-Pandemie Vollmachten übertragen ließ, zeigten sich 13 EU-Staaten aus Westeuropa besorgt. Sollten sich zwei Regierungen anschließen, wäre das Quorum erreicht. Andere Juristen verweisen auf den Gipfelbeschluss zum Corona-Fonds. Unter der Überschrift "Weihnachten für den Rechtsstaat schon im Juli" schreibt John Morijn von der Universität Groningen, dass im Abschnitt A19 die Auszahlung von Geldern verknüpft wird mit den "länderspezifischen Empfehlungen". Und in diesen Dokumenten der Kommission werden Budapest und Warschau aufgefordert, die "Unabhängigkeit der Gerichte" zu stärken, beziehungsweise zu schützen. Dies könnte, so Morijn, ein Hebel sein. Die entscheidende Frage wird sein, ob die EU-Kommission ihn auch nutzen würde.

© SZ vom 24.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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