Ungarns Rechtsgrundlagen werden von seinen neuen Machthabern rigide umgebaut. Die Regierungspartei, der Bund der Jungdemokraten (Fidesz), und deren Ministerpräsident Viktor Orbán nennen das eine "nationale Revolution". Tatsächlich ist es das Konzept, die Nation auf eine Partei, auf einen Autokraten zuzuschneiden. Zum Jahreswechsel sind Ungarns neue Verfassung und ein Bündel hochproblematischer Gesetze in Kraft getreten. Das umkämpfte autoritäre Mediengesetz gilt schon länger. Die darin geschaffene Medienbehörde hat zum Stichdatum klargemacht, wohin der Zug geht. Die Frequenz von "Klubradio", dem jüngst geschlossenen oppositionellen Sender, wurde Strohmännern der Fidesz zugeschanzt. Zwei Fernsehredakteure, seit dem 10. Dezember vor dem TV-Gebäude in Budapest im Protesthungerstreik, wurden entlassen.
Da offenbaren sich die Absichten des Machtapparates eindeutig. Die EU aber und deren Mitgliedsstaaten schauen weiterhin desinteressiert dem Treiben Orbáns zu. Die USA tun das nicht. Aus dem Budapester Außenministerium ist zu hören, ein Brief der US-Außenministerin Hillary Clinton lasse es nicht an Deutlichkeit fehlen; Washington sehe Ungarn auf dem Weg in ein autoritäres System.
Die Symptome sind eindeutig. Es spottet jeder europäisch-parlamentarischen Tradition, wenn eine Mehrheit ohne Einbindung von Opposition und wichtigen gesellschaftlichen Kräften eine neue Verfassung durchpeitscht. Das tat Orbáns Fidesz, das neue Grundgesetz ist am 1. Januar in Kraft getreten. Es ersetzt konkrete Regeln mit ideologischem und nationalem Getöse, schafft rechtsfreie Räume für die Regierung. Die ebenso brisante Justizreform erlaubt mit neuen Pensionsregeln, die Richterschaft zugunsten der Mehrheitspartei auszuwechseln.
Noch gravierender: Das Verfassungsgericht darf künftig über nichts mehr befinden, was mit Staatshaushalt und Steuerrecht zu tun hat. Opposition und Bürgern wird die Möglichkeit genommen, willkürliches Handeln der Mehrheit grundsätzlich überprüfen zu lassen und offensichtliches fiskalisches Unrecht zu verhindern.
Gewissenserforschung über Grundüberzeugungen
Ein klares Maß für Rechtsstaatlichkeit ist zudem Kontinuität. Rechtsauffassungen können sich ändern. Aber Dinge, die gestern noch legal waren, dürfen nicht über Nacht rückwirkend für kriminell erklärt werden. Das aber geschieht unentwegt. Ganzen Bevölkerungsgruppen wird durch Verstaatlichung der privaten Rentenvorsorge ein Teil ihres Altersnotgroschens genommen. Budapest will gleichzeitig von der EU aus einer neuen Finanzklemme gerettet werden - es wurde vor drei Jahren schon einmal von EU und IWF saniert -, knebelt aber zugleich die Nationalbank und verstößt so gegen EU-Vorschriften. Die amerikanische Regierung hält die Situation inzwischen für so prekär, dass sie daran denkt, Radio Free Europe (RFE), den einstigen Informations- und Propagandasender gegen die Diktaturen des Ostblocks, sein Programm in ungarischer Sprache wieder aufnehmen zu lassen.
Die EU und ihre Mitgliederregierungen aber hatten schon vor einem Jahr die Warnungen vor dem Knebelgesetz für die Medien verschlafen. Jetzt tun sie wieder so, als gehe sie dies alles nichts an, pflegen mit Orbán Umgang wie mit einem "lupenreinen Demokraten". Die Europäische Volkspartei, der Fidesz angehört, gebärdet sich geradezu als Kongress der Weißwäscher für den Autokraten in Budapest. Solidarität aber darf nicht nur in Geld- und Wirtschaftsfragen gelten, sie muss die demokratische Wohlfahrt der Völker mitbedenken. Denn eines steht fest: Mit diesen Gesetzen würde Ungarn niemals als Neuling in die EU aufgenommen. Als Mitglied aber wird seiner Regierung alles nachgesehen. Europa hat eine Gewissenserforschung über seine demokratischen Grundüberzeugungen nötig. Ungarn wäre Anlass genug dafür.