Oppositionsführer Kılıçdaroğlu:Da sitzt ein einfacher Türke aus dem Volk

Oppositionsführer Kılıçdaroğlu: Politiker auf Plastikstuhl: Kılıçdaroğlu wirbt mit Einfachheit, hier auf dem Zeltplatz bei seinem "Gerechtigkeits-Kongress".

Politiker auf Plastikstuhl: Kılıçdaroğlu wirbt mit Einfachheit, hier auf dem Zeltplatz bei seinem "Gerechtigkeits-Kongress".

(Foto: Ozan Kose/AFP)
  • Der türkische Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu inszeniert sich als volksnah. In einer westtürkischen Provinz veranstaltet er einen "Gerechtigkeits-Kongress".
  • Das ärgert Recep Tayyip Erdoğan. Der Präsident bekrittelt ein Foto, das Kılıçdaroğlu im Unterhemd zeigt.
  • Die Bürger vertrauen der Justiz nicht mehr und diskutieren über die neuen Notstandsdekrete. Deswegen könnte ihnen Kılıçdaroğlus Strategie gefallen.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Sieht so wirklich ein Oppositionsführer aus, den man fürchten muss? Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan jedenfalls reagierte heftig, als kürzlich ein Foto von Kemal Kılıçdaroğlu in der Presse auftauchte. Es zeigt den 68-jährigen Vorsitzenden der säkularen Partei CHP, wie er im Unterhemd mit seiner Tochter am Esstisch sitzt. Der Tisch ist klein, das Essen bescheiden, teils liegt es noch in Plastiktüten. Den beiden am Tisch - diesen Eindruck vermittelt das Bild zumindest - scheint es an nichts zu fehlen.

Erdoğan jedenfalls fand das Bild nur peinlich. Es komme einer Beleidigung der Öffentlichkeit gleich, sich als Spitzenpolitiker im Unterhemd zu zeigen, zog er über Kılıçdaroğlu her. Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk hätte sich dem Volk niemals so gezeigt. Die CHP ist die Partei, die Atatürk geschaffen hat. Jene Partei, die das Land einmal so beherrschte wie heute Erdoğans AKP. Gut möglich, dass in diesem Angriff von Erdoğan auch Missgunst mitschwang. Früher war er es, der durch Volksnähe auffiel, wenn er bei den einfachen Leuten am Tisch saß und Suppe aß.

Früher hielt man Kılıçdaroğlu für wenig charismatisch

Das Foto von Kılıçdaroğlu wurde aufgenommen, als er sich in diesem Sommer zu seinem Gerechtigkeitsmarsch von Ankara nach Istanbul aufgemacht hatte. Es gehört zu einem Buch, das diese wichtigen Tage im Leben des Oppositionspolitikers dokumentiert: Ein Mann unterwegs auf den Straßen des Landes, um für Gerechtigkeit zu kämpfen. Er ist natürlich längst in Istanbul angekommen, gefeiert von Hunderttausenden. Damit dieser Geist des Aufbegehrens sich aber nicht sofort wieder verflüchtigt, hält Kılıçdaroğlus Partei noch bis Dienstagabend als Fortsetzung einen großen "Gerechtigkeits-Kongress" in der westtürkischen Provinz Çanakkale ab.

Das Unterhemd-Foto? Rechtzeitig zum Auftakt an die Öffentlichkeit gegeben. An Erdoğan gerichtet sagte Kılıçdaroğlu, der Präsident beschäftige sich mit Unterhemden, er aber rede lieber über Gerechtigkeit. Kılıçdaroğlu hat einen Lauf, wie man in der Politik so sagt. In den vergangenen Monaten konnte er seine Partei hinter sich versammeln, die ihn lange für zu schwach und zu wenig charismatisch hielt.

In jüngster Zeit hatte er einfach gute Ideen, auch wenn die Partei manchmal nicht schnell genug mitkam. Einige grummelten ebenfalls, als sie ihn in der Zeitung im Unterhemd sahen, bis sich dann der Eindruck durchsetzte, da sitze ja einer aus dem Volk.

Der Versammlungsort ist von symbolischer Bedeutung

Zum Auftakt des Kongresses sagte Kılıçdaroğlu, es gebe "weder Recht noch Gerechtigkeit in diesem Land". Das Vertrauen der Bevölkerung in die Justiz ist dahin. Umfragen zufolge trauen 70 Prozent dem System nicht - die Zweifel reichen bis in Erdoğans Anhängerschaft. Mit dem Kongress in Çanakkale setzt Kılıçdaroğlu die Strategie fort, mit der Gerechtigkeitsfrage alle Bürger anzusprechen, nicht nur jene, die sowieso seine Partei wählen. Noch bis Dienstag nehmen mehr als 700 Sprecher aus verschiedenen politischen Lagern an dem viertägigen Kongress teil. Es geht auch um Menschenrechte, Umweltschutz oder Religionsfreiheit - jeder soll sich angesprochen fühlen. Parteilogos haben auf dem Kongress nichts zu suchen.

Den Versammlungsort hat die Partei mit Bedacht gewählt. In dieser Gegend feierte das untergehende Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg einen letzten großen militärischen Erfolg, als es die alliierten Truppen zurückschlug. Die Schlacht brachte einen Volkshelden hervor: Atatürk. Auf den Ruinen der Osmanischen Reiches gründete er später die moderne Türkei. Hier den Kongress abzuhalten, ist von symbolischer Bedeutung. Kılıçdaroğlu zeigt, wie sehr er sich dem Erbe Atatürks verpflichtet fühlt - einer am Westen und dessen Werten ausgerichteten Türkei.

Für zusätzlichen Diskussionsstoff sorgten übers Wochenende neue Notstandsdekrete. Demnach wird der türkische Geheimdienst MIT, bisher unter Kontrolle des Ministerpräsidenten, Erdoğan unterstellt. Außerdem hat die Generalstaatsanwaltschaft Ankara Medien zufolge die Zuständigkeit für Ermittlungen gegen Abgeordnete übertragen bekommen, die eigentlich Immunität genießen sollten. Aus Sicht von Kılıçdaroğlu und seiner Partei: kein Zeichen für Recht und Gerechtigkeit - sondern ein Skandal.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: