Süddeutsche Zeitung

Opposition in der Türkei:Wiedersehen mit der Macht

  • Die oppositionelle CHP hat in der Türkei schon lange keine Wahlen mehr gewonnen, nun könnte sie in Istanbul und Ankara den Bürgermeister stellen.
  • Das motiviert auf einmal auch andere, sich kritisch über die regierende AKP zu äußern.
  • Die Partei von Präsident Recep Tayyip Erdoğan aber will das Ergebnis anfechten.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Es ist kurz nach zehn Uhr morgens, Ekrem İmamoğlu hat dunkle Ringen unter den Augen, er sieht aus wie ein Mann, der nicht geschlafen hat. Am Revers seines nachtblauen Anzugs steckt eine kleine türkische Flagge. "Nach unseren Informationen haben wir die Wahl gewonnen", sagt İmamoğlu. Ein paar Leute klatschen, vorsichtig, dann lauter, als würden sie erst ausprobieren, wie das geht zu jubeln - nach 25 Jahren abseits der Macht.

Man kann das alles live im Sender Habertürk sehen und bei den anderen regierungsnahen TV-Stationen, weil sie auf einmal brennend an allem interessiert sind, was der Istanbuler Bürgermeisterkandidat Ekrem İmamoğlu von der säkularen Oppositionspartei CHP sagt und tut. Bis zum Sonntag war dies noch ganz anders. Im Kommunalwahlkampf gab es eigentlich nur ein Programm, und das bestimmte der Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Er redete dreimal am Tag, immer in einer anderen Stadt, und die Kameras aller Sender waren dabei und auf ihn gerichtet. Die Opposition dagegen kam kaum vor.

Und so ist der Montag ein bemerkenswerter Tag nach einer außergewöhnlichen Wahlnacht, in der die Auszählung der Ergebnisse ausgerechnet dann unterbrochen wurde, als es gerade am spannendsten war. Gegen Mitternacht hatte sich auf einmal abgezeichnet, dass es in Istanbul ein Fotofinish geben würde, einen Zieleinlauf, bei dem die Kontrahenten fast gleichauf liegen.

Den ganzen Abend hatte der Bewerber der konservativ-islamischen AKP, Ex-Premier Binali Yıldırım, geführt, aber je später es wurde, desto mehr schmolz sein Vorsprung dahin. Dann lag İmamoğlu auf einmal nur noch mit 4443 Stimmen zurück, in einer Stadt von 15 Millionen Einwohnern.

Dann wurde das Zählen eingestellt, auf den Bildschirmen bewegte sich nichts mehr. "Wir kriegen keine Informationen mehr", sagte eine TV-Moderatorin. Da hatte sich Yıldırım in einem kurzen Auftritt in Istanbul bereits zum Sieger erklärt.

Am Morgen sind dann schon die Straßen mit den Plakaten der AKP dekoriert: "Danke Istanbul." War alles vorbereitet, hatte ja keiner gedacht, dass es so knapp werden könnte und dass man nicht weiß, wie es ausgeht, wenn ein paar strittige Urnen nachgezählt sind.

Auch die ungültigen Stimmen werden noch einmal bewertet

İmamoğlu tritt am Mittag dann noch mal vor die Kameras in der Wahlkampfzentrale der CHP. Jetzt hat der 49-Jährige die Krawatte abgelegt, die er morgens noch trug. Mit einem Taschentuch wischt er sich über die Stirn. Er bedankt er sich bei der obersten Wahlbehörde YSK für deren Genauigkeit. So etwas hat man von einem Oppositionspolitiker schon lange nicht mehr gehört in der Türkei. Bei früheren Wahlen schlug der Behörde und ihrem Chef Sadi Güven meist Misstrauen entgegen, vor allem nachdem Güven beim Referendum zur Einführung des Präsidialsystems 2017 auch ungestempelte Wahlumschläge im Nachhinein für gültig erklärte.

Am Montagmorgen tritt auch Güven auf. Er sagt, es gebe zahlreiche Nachzählwünsche, aber im Moment liege auch für seine Behörde in Istanbul İmamoğlu vorne. Mittags beträgt dessen Vorsprung dann auf einmal 25 158 Stimmen.

Binali Yıldırım, der Mann, der jetzt eigentlich der Verlierer ist, sagt dann, es würden nun auch die "ungültigen Stimmen" noch einmal bewertet, damit könne sich "alles ändern".

In Ankara hat schon in der Nacht Mansur Yavaş seinen Sieg und den seiner Oppositionsallianz gefeiert. Yavaş hat mit 50,9 Prozent der Stimmen gewonnen, sein Gegenkandidat von der AKP, der Erdoğan zuletzt als Minister gedient hatte, bekam 47,1 Prozent. Es gibt auch hier Forderungen nach Prüfungen einzelner Urnen.

Yavaş stieß erst 2018 wieder zur CHP, aus der er einst ausgetreten war. Er ist eigentlich ein Konservativer. Die AKP versuchte, im Wahlkampf seinen Ruf zu ruinieren, sie grub alte Geschichten aus. Erdoğan sagte, gegen den 63-Jährigen lägen im Finanzministerium belastende Unterlagen vor, er drohte mit Strafverfolgung. Das Finanzministerium wird von Erdoğans Schwiegersohn Berat Albayrak geführt.

Im Sender CNN Türk machen sich noch in der Nacht altgediente türkische Reporter Gedanken darüber, ob dieser Wahlkampf mit den richtigen Mitteln und im richtigen Ton geführt wurde. Auf Veranstaltungen hatte Erdoğan zum Beispiel einen Ausschnitt aus dem Video des Christchurch-Attentäters gezeigt und anfangs sogar behauptet, die westliche Presse würde diese Schandtat totschweigen. "Ich verfolge seit 40 Jahren die türkische Politik, einen so harten Wahlkampf habe ich noch nie erlebt", sagt Sedat Ergin, langjähriger Kolumnist der konservativen Hürriyet, in der Wahlsendung von CNN Türk. Ertuğrul Özkök, früher Chefredakteur derselben Zeitung, stimmt zu: "Ich bin jetzt 71 Jahre alt", so schlimm sei es niemals gewesen. Es müsse sich etwas ändern, "die Intellektuellen müssen aus den Gefängnissen entlassen werden", sagt Özkök. Es wirkt, als hätten sich hier plötzlich Schleusen geöffnet, als hätten Menschen wieder Mut gefasst, die zu lange geschwiegen haben. CNN Türk ist kein Sender, in dem man zuletzt Regierungskritik erwartet hätte.

Erdoğan hat weit nach Mitternacht noch einen Auftritt in Ankara. Er ist von Istanbul, wo er gewählt hat und wo er vor 25 Jahren selbst Bürgermeister war, noch in der Nacht nach Ankara geflogen. Für eine Rede vom Balkon der AKP-Zentrale. Nach jeder Wahl warten hier Tausende auf den Präsidenten. Erdoğan sagt, es sei die 15. Wahl, die die AKP gewonnen habe. Sie sei, "mit großem Abstand die erste Partei".

Von 81 Provinzhauptstädten sind nun 40 in Händen der AKP, zuletzt waren es jedoch 48. Zwölf beherrscht die MHP, der ultranationalistische Partner, mit dem Erdoğan eine Allianz geschlossen hat.

Erdoğan sagt, Niederlagen müsse man akzeptieren, er beglückwünsche "alle". Seine Wähler beruhigt er noch mit der Botschaft: "In den nächsten vier oder fünf Jahren wird euer Bruder der Präsident sein und die AKP an der Macht bleiben. Alles geht weiter wie bisher." Gewählt wird nach jetzigen Plänen erst wieder 2023. Erdoğan verspricht auch eine Zeit der Reformen, ohne Details zu nennen.

İmamoğlu greift das später auf, er nennt Erdoğan "den verehrten Staatspräsidenten", verspricht, "für alle Istanbuler" da zu sein, und sagt: "Ich werde die Menschen nicht auseinanderdividieren." Die CHP hat nun 20 große Städte gewonnen, auch wichtige Kommunen an der Mittelmeerküste. In sieben Provinzhauptstädten ist die kurdische HDP in die Rathäuser zurückgekehrt, hier hatte die AKP 2016 Zwangsverwalter eingesetzt. Die HDP hat aber auch drei Städte an die AKP verloren und die Stadt Tunceli an einen Kommunisten, er wird der erste Bürgermeister der TKP in der Geschichte. Eine Stadt wird von einem Parteilosen verwaltet.

In der Nacht war es sehr ruhig in Istanbul, keine Hupkonzerte, nur vereinzelte Fahnenschwenker. Viele blieben wohl vor dem Fernsehen sitzen, das irgendwann dann auch nichts Neues mehr wusste. Am Morgen wirkt es, als könnte auch ein Machtwechsel viele Bürger der ewigen Stadt am Bosporus nicht aus der Ruhe bringen.

Der Kellner eines Cafés in der Nähe des Galata-Turms hat AKP gewählt. "Meine Mutter wollte, dass ich schwöre, AKP zu wählen, kann man zur eigenen Mutter Nein sagen?", fragt er. "Aber ich habe mir gewünscht, dass die CHP gewinnt. Jetzt freue ich mich." Der AKP wirft er vor, dass sie "zu viele Syrer ins Land geholt hat". Die bekämen mehr Hilfe vom Staat als die Türken. Die Wirtschaftskrise und die Inflation von 20 Prozent, das sagen alle Kommentatoren, habe der Regierungspartei geschadet. Erdoğan hatte für den Absturz der Lira "fremde Mächte" verantwortlich gemacht. Das haben ihm viele nicht geglaubt.

In einem kleinen Lebensmittelgeschäft neben dem Café am Galata-Turm, sagt der Verkäufer hinter der Theke, ein junger Mann mit Bart: "Jetzt soll die CHP dem Volk dienen, die AKP hat genug gedient." Wenn die CHP ihren Job dann schlecht mache, "dann soll auch sie eine Ohrfeige des Volkes bekommen wie jetzt die AKP".

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Quelle:
SZ vom 02.04.2019
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