Opportunismus in der Politik:Gefährlich, aber unentbehrlich

Müssen Politiker zu ihren Positionen stehen, ohne zu wanken? Oder ist es besser, sie blitzartig zu wechseln, wenn sie nicht mehr zu halten sind - so wie es Angela Merkel nach der Katastrophe von Fukushima vorgemacht hat?

Von Gustav Seibt

"Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?" Das ist angeblich der populärste Ausspruch von Konrad Adenauer. Dem ersten Bundeskanzler nahmen die Deutschen seine indianerhafte Schlauheit nicht übel. Den Bundestagsausschuss, der 1957 die folgenreichste Aufstockung der Sozialsysteme in der Geschichte der Bundesrepublik vorbereitete, die "dynamische Rente", nannte man "Kuchenausschuss": Es ging eben darum, einen dicken Kuchen zu verteilen.

Merkel startet Starkstromleitung

Bundeskanzlerin Merkel bei der Inbetriebnahme einer Starkstromleitung 2012: Die Kehrtwende in der Energiepolitik - Pragmatismus oder Opportunismus?

(Foto: dpa)

Das Land stand unmittelbar vor der dritten Bundestagswahl, und Adenauer wollte das Problem, dass die Rentner bisher nicht am Wirtschaftswunder partizipiert hatten, auf eine für ihn selbst möglichst nutzbringende Weise lösen. Die Renten wurden fortan an die Löhne gekoppelt und taten einen gewaltigen Sprung nach oben. Die Fachminister Ludwig Erhard (Wirtschaft) und Fritz Schäffer (Finanzen), die unabsehbare Folgelasten in der Zukunft befürchteten, widersprachen heftig, doch Adenauer setzte sich durch. Seine Partei, die CDU, gewann die Wahl haushoch. Auf Kuchenausschüsse, die Wahlgeschenke vorbereiten, verzichtet seither keine Bundesregierung, erklärt der Historiker Edgar Wolfrum in seiner Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, die als Standardwerk gilt und den Titel "Die geglückte Demokratie" trägt. Man sieht, was zu diesem Glück beigetragen hat.

Hat sich Angela Merkel an Adenauers Maxime erinnert, als sie 2011 fast über Nacht das Ende der Atomkraft in Deutschland verkündete, deren Laufzeit sie noch ein halbes Jahr zuvor um viele Jahre verlängert hatte, mit dem Argument, es handle sich um eine unverzichtbare "Brückentechnologie"? Die Tage dieses blitzartigen Umsteuerns sind gut dokumentiert. Die Katastrophe von Fukushima drohte den Unionsparteien bei der bevorstehenden Landtagswahl in Baden-Württemberg einen aussichtslosen Atomwahlkampf aufzunötigen. Und Merkel tat, was sie in solchen Situationen immer tut: Sie räumte eine unhaltbare Position ohne Zögern und ohne sichtbares Bedauern. Warum in eine Schlacht gehen, die schon verloren ist?

Merkel verbindet Vernünftiges mit machttaktisch Nützlichem

Schon die Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke in Deutschland war von der naturwissenschaftlich ausgebildeten Kanzlerin keineswegs aus rein sachlichen Gründen durchgesetzt worden. Auch hier wurde gegen den Rat des zuständigen Fachministers gehandelt. Es ging darum, den konservativen Flügel der CDU, den der Württemberger Stefan Mappus vertrat, zufriedenzustellen; als die Rücknahme nötig wurde, entledigte sich Merkel, wie Ralph Bollmann, ihr jüngster Biograf, bemerkt, nebenbei auch einer lästigen Bürde altwestdeutscher Männerpolitik. Wieder verband sie das Vernünftige mit dem machttaktisch Nützlichen. Dem Vertrauen in die Politik hat der Vorgang insgesamt aber nicht genützt.

Übrigens konnte Adenauer sein zum Sprichwort aufgestiegener Satz nie nachgewiesen werden, worauf sogar die Website der Konrad-Adenauer-Stiftung hinweist. Die literarisch berühmteste Quelle für den Satz sind Dolf Sternbergers "Figuren der Fabel", die 1941 bis '43 noch in der alten, bürgerlich gebliebenen Frankfurter Zeitung erschienen und die von vielen Lesern damals als Kassiber gegen das Regime verstanden wurden: Sternberger vertrat die Vernunft des Pragmatismus gegen den fanatischen Durchhaltewillen, den die Nazis proklamierten. Die Popularität des angeblichen Adenauer-Diktums verrät auch etwas von der ins Rheinländisch-Zivile gedrehten Mentalität der frühen Bundesrepublik: "Wat kümmert mich min Jeschwätz von jestern?" lautet seine kölnische Gestalt.

Die andere Seite dieser Lässigkeit ist der Verdacht des Opportunismus, der die demokratische Politik immer begleitet. Die Politiker reden uns nach dem Munde, sie sagen nicht die Wahrheit, sie sind ohne Rückgrat und Überzeugungen. Sind sie also nicht besser als die Schleimer und Mitläufer, wie sie das banale Berufsleben auch hervorbringt? Wie der Karrierist vor dem Chef buckelt, so schmeichelt der Politiker dem Wahlvolk.

Wer solche Vorwürfe erhebt, sollte auch die Erfahrungen bedenken, die Politiker mit Überzeugungstreue machen: Als Kanzler Gerhard Schröder unter dem Druck verheerender Zahlen in Haushalts- und Sozialkassen und auf dem Arbeitsmarkt seit 2002 seine Agenda 2010 weitgehend über seine Partei hinweg durchsetzte, bescherte er ihr eine Serie von Wahlniederlagen. Als Angela Merkel im daraufhin nötig gewordenen vorgezogenen Bundestagswahlkampf mit dem kompromisslos grundsätzlichen Steuerreformprogramm von Paul Kirchhof auftrat, verspielte sie um ein Haar einen schon sicher geglaubten Erdrutschsieg der Unionsparteien. Merkels oft kritisierter Unwille, sich eindeutig festzulegen, geht auch auf solche Erfahrungen zurück.

Opportunismus kann auch positiv sein

Mit einer anderen Festlegung hatte Schröder allerdings einen spektakulären Erfolg erzielt. Das war sein Nein zum Irak-Krieg vor der Bundestagswahl 2002, mit dem er einen bereits verloren geglaubten Wahlkampf wieder drehte. War das Opportunismus oder Überzeugung? Wenn man Edgar Wolfrums soeben erschienene detaillierte Darstellung der rot-grünen Regierung studiert, stellt es sich als Mischung dar. Schröder und sein Außenminister Joschka Fischer waren von den Gründen der Amerikaner für diesen Krieg von vornherein nicht überzeugt; sie hielten das Unternehmen für riskant, ja abenteuerlich und für unzureichend legitimiert. Dazu kam, dass keine der beiden Regierungsparteien nach den Interventionen im Kosovo und in Afghanistan für eine dritte deutsche Kriegsbeteiligung hätte gewonnen werden können.

Aus dieser Konstellation von sachlichen Zweifeln und machttaktischer Not machte Schröder dann allerdings ein überschießendes Wahlkampfspektakel. Zum Entsetzen altgedienter Sozialdemokraten wie des Historikers Hans-Ulrich Wehler dröhnte er vom "Deutschen Weg", von dem zunächst keineswegs sicher war, ob auch Franzosen und Russen ihn betreten würden. Die Sache war außenpolitisch hochriskant.

Politik ist nie nur die brachiale Durchsetzung dessen, was für sachlich richtig, für vernünftig und notwendig gehalten wird. Es geht zugleich immer um Machtgewinn und Machtbehauptung. Politik ist der Beruf mit der Macht. Das mögen viele Menschen nicht. Und so gilt vielen Politik als Feld der Gewissenlosigkeit und des niederträchtigsten Opportunismus.

Aber was genau ist Opportunismus? Ganz allgemein die Berücksichtigung von Gegebenheiten und äußeren Umständen beim Handeln. Wer solche Umstände überhaupt nicht beachtet, wird zum Doktrinär oder zum Gewalttäter. Wer sich nur nach den Umständen richtet, wird allerdings nicht nur seine Grundsätze verlieren, sondern am Ende auch real nichts erreichen, denn er wird alle Ziele jenseits der Macht aus den Augen verlieren. Das kann regelrecht in den Ruin führen. Eine Politik, die jahrelang gewissenlos und selbstbezogen auf Machterhalt ausgerichtet war, hat das heutige Italien an den Abgrund geführt. Dort sind die Wähler und die verschiedenen Interessengruppen im Lauf der Jahre mit noch viel mehr Kuchen gefüttert worden als in Deutschland, mit der Folge, dass das Land nun dringend saniert werden müsste.

Opportunist Helmut Kohl

Positiv kann man Opportunismus als Kontakt der Politik mit den realen Verhältnissen definieren. Darum wird in der Demokratie Politik als Wettbewerb um Macht organisiert, weil man hofft, dass schon dieser Wettbewerb solche Bodenhaftung erzwingt. Dabei muss es aber immer auch einen Kern geben, der nicht zur Disposition steht. Helmut Schmidt blieb 1982/83 gegen seine Partei und gegen eine Welle des Pazifismus beim Beschluss zur Stationierung von Pershings und Cruise Missiles. Vermutlich hat er damit das Ende der Sowjetunion um mehrere Jahre beschleunigt.

Helmut Kohl konnte als durchtriebener Machttaktiker und Opportunist 1990 die Gelegenheit zur Wiedervereinigung auch deshalb nutzen, weil die Bundesrepublik in den Jahrzehnten zuvor der DDR zwar vielfach entgegengekommen war, ihr die Anerkennung als Staat aber eisern versagt hatte. Ohne solche Grundsatztreue wäre ihre Auflösung weder völkerrechtlich noch verfassungsrechtlich so leicht und schnell möglich gewesen.

Prinzipien, so sagte schon Metternich, sind drehbare Geschütze: Sie können in alle Richtungen feuern, wenn sie fest am Boden stehen.

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