Süddeutsche Zeitung

Opfer des Gaza-Kriegs:"Geh, stirb in diesem Haus"

Symbol des palästinensischen Leidens: 29 Angehörige der Samouni-Familie starben bei Israels Gaza-Offensive - für UN-Ermittler Goldstone ein Kriegsverbrechen.

Peter Münch, Gaza-Stadt

Ein karger Raum mit Plastikstühlen, an der Decke surrt ein Ventilator, auf dem Tisch wird der Tee kalt, und Salah al-Samouni sagt in die Stille hinein: "Hier hat er gesessen, er kam gerade rechtzeitig."

In seinen Händen - es sind große Hände, Bauernhände, und sie zittern - hält er einen Brief mit dem Wappenkopf der Vereinten Nationen, geschickt an seine Adresse im staubigen Stadtteil Zaitun von Gaza-Stadt.

"Sehr geehrter Herr al-Samouni", steht da auf Englisch geschrieben, "kein schriftlicher Bericht kann die menschliche Dimension des Konfliktes so ausdrücken, wie Sie das mit Ihrer Stimme und Ihren Worten gemacht haben.

Ihre Zeugenaussage ist ein wesentlicher Bestandteil bei der Bemühung, die Wahrheit zu finden." Unter dem Brief ist die geschwungene Unterschrift von Richard Goldstone. "Als er kam", sagt Samouni, "habe ich gefühlt, dass es noch Menschen gibt, die uns helfen."

Richard Goldstone, der 71-jährige frühere Chefankläger des Jugoslawientribunals, ist Vorsitzender jener UN-Mission, die mögliche Kriegsverbrechen im Gaza-Krieg untersucht hat, bei dem zwischen dem 27.Dezember und dem 18. Januar 1400 Palästinenser und 13 Israelis getötet wurden.

Und Salah al-Samouni ist in Goldstones 575 Seiten starkem Bericht, der an diesem Mittwoch in der UN-Vollversammlung in New York zur Debatte steht, einer der Hauptbelastungszeugen gegen Israels Armee.

Der Samouni-Fall ist zu einer Art Symbol des palästinensischen Leidens geworden. Doch was heißt das schon hier in diesem Raum, dessen einziger Schmuck eine Tafel ist mit den Fotos von mehr als zwei Dutzend Menschen - den Toten der Samouni-Familie.

29 Samounis sind in diesem Krieg gestorben, allein 21 von ihnen in jenem Haufen Schutt und Dreck auf der anderen Straßenseite, der einmal das Haus eines Cousins von Salah al-Samouni war. "Die israelischen Soldaten haben uns in dieses Haus gebracht, da sollten wir sicher sein. Sie haben mit uns gesprochen und gesehen, dass wir alle Zivilisten sind", sagt Salah al-Samouni. Zahlreichen Zeugenaussagen zufolge waren am 4. Januar, in den ersten Tagen der israelischen Bodenoffensive, fast 100 Menschen auf Geheiß der Armee in diesem Haus zusammengepfercht. Es gab wenig zu essen, kaum Wasser, keine Milch für die Babys.

Am nächsten Morgen in aller Früh wollte Salah al-Samouni mit einigen Cousins aus dem Haus gehen, um ein paar Dinge zu besorgen. Sofort gerieten sie unter Beschuss, mutmaßlich von einem israelischen Hubschrauber aus, der eine Rakete abfeuerte, und als sie sich ins Haus flüchteten, schlug das zweite Geschoss ein. Überall waren Rauch und Staub und Schreie, Tote lagen über Verletzten, und zu den Toten zählten Salah al-Samounis zweijährige Tochter Azza, seine Eltern, Cousins und Cousinen, Nichten und Neffen, Onkel und Tanten.

Im Goldstone-Report ist dieser Fall dokumentiert in "Kapitel XI: Absichtliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung". Doch das ist nicht der einzige Vorwurf, der erhoben wird. Nach dem Beschuss soll die israelische Armee zweieinhalb Tage lang verhindert haben, dass Sanitäter vom Roten Kreuz oder Roten Halbmond zu den Verletzten kommen konnten. "Ich habe die Soldaten um Hilfe angefleht", sagt Salah al-Samouni, "sie sagten, geh' zurück und stirb in diesem Haus."

All das hat er auch zu Protokoll gegeben, als eines Tages Ende Juni plötzlich ein Konvoi mit sechs weißen Jeeps der Vereinten Nationen vor seiner Tür hielt, und Richard Goldstone seine Geschichte hören wollte. Samouni hat die Fotos der toten Tochter gezeigt und die Narben des sechsjährigen Sohnes Ahmed, die nach zwei plastischen Operationen das ganze Kindergesicht überziehen.

Und er hat die Geschichte seines Vaters erzählt, der mehr als 20 Jahre lang in Israel gearbeitet und auf Hebräisch mit den Soldaten gesprochen hatte. Es sei alles in Ordnung, sie wüssten, dass hier keine Kämpfer seien, hat der Vater gesagt - kurz bevor er und die anderen starben.

Die entscheidende Frage bleibt ohne Antwort

Mehr als zwei Stunden lang hat Richard Goldstone, der Jude aus Südafrika, auf dem Plastikstuhl im Wohnzimmer gesessen und Salah al-Samounis Anklage gegen Israels Armee angehört. Und am Ende hat er ihm in seinem Report bescheinigt, die UN-Mission halte seine Aussagen für "glaubwürdig und verlässlich. Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln".

Aber die Frage, die alles entscheidende, drängende, hilflose Frage, die hat Goldstone ihm nicht beantworten können: "Warum haben die Israelis das gemacht? Warum haben sie uns zuerst in ein sicheres Haus gebracht, um uns dann zu bombardieren?"

Die israelische Armee hat bereits im Frühjahr erklärt, die Anschuldigungen würden intern untersucht. Ein Armeesprecher sagte nun auf Anfrage der Süddeutschen Zeitung, dass es bislang noch kein Ergebnis gebe, aber vor einem Monat sei der Fall zur weiteren Investigation an die Militärpolizei übergeben worden.

Generell beharren die Verantwortlichen jedoch darauf, in diesem Krieg sei alles getan worden sei, um Zivilisten zu schützen - zum Beispiel dadurch, dass die Bevölkerung von Gaza mit abgeworfenen Flugblättern, durch automatisierte SMS-Botschaften und Anrufe vor bevorstehenden Angriffen gewarnt worden sei.

Die Mitarbeit am Goldstone-Report hat die Regierung in Jerusalem jedoch abgelehnt, und die Ergebnisse werden als einseitig verdammt, obwohl Goldstone nicht nur Israel, sondern auch der in Gaza regierenden Hamas Verbrechen vorwirft. Die Aufforderung, eine eigene unabhängige Untersuchungskommission einzusetzen, hat Israel verworfen.

"Wie wenn ein Gelähmter wieder laufen kann"

Aber vielleicht kommt angesichts des starken internationalen Drucks ja doch noch etwas in Bewegung. Vor einigen Tagen bekam Salah al-Samouni abends einen Anruf vom Palästinensischen Zentrum für Menschenrechte, das sich seines Falles angenommen hat. Dort hatte sich die israelische Militärpolizei gemeldet und ausrichten lassen, Samouni solle zum Grenzübergang Erez kommen, um dort eine Zeugenaussage zu machen.

Ein Anruf von den Israelis, eine Zeugenaussage vor jenen, die ihn beschossen haben - Salah al-Samouni war aufgewühlt und ratlos. Iyad al-Alami vom Menschenrechtszentrum hält das Ganze für ein Ablenkungsmanöver. "Wir glauben nicht an Nachforschungen durch die Armee, wir wollen eine unabhängige Untersuchung", sagt er. Dennoch hat er ihm geraten, seine Aussage zu machen, und Samouni, hin- und hergerissen zwischen Angst und Wut und einem Funken Hoffnung, hat sich entschieden, nach Erez zu fahren.

Was können sie ihm schon antun nach allem, was bereits passiert ist; was hat er zu verlieren nach all dem, was er schon verloren hat - solche Gedanken sind es, die ihn begleiten werden. Und noch einen anderen Grund gibt es, warum er nach Erez fährt - Richard Goldstone hat ihm wieder Hoffnung gegeben. "Als er kam, war das für mich, wie wenn ein Gelähmter wieder laufen kann", sagt er.

Jede Wendung, die die Diskussion um den Goldstone-Report nimmt, verfolgt er, jeder Abstimmung in den UN-Gremien fiebert er entgegen. Er wartet darauf, irgendwann einmal vielleicht mit Geld entschädigt zu werden, vor allem aber will er eines sehen: "Dass Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt werden. Dann würden es sich die Israelis beim nächsten Mal genauer überlegen, was sie tun."

Aber auch das wird ihm wohl keine Antwort bringen auf die eine Frage: Warum? Vor allem nachts treibt sie ihn um, in den Träumen erscheinen ihm die getöteten Verwandten, und meist sind es furchtbare Träume. Aber neulich, da hat er im Schlaf mit seinem toten Cousin gesprochen. Der hat ihm erzählt, wie friedlich und schön es da ist, wo er jetzt ist. "Ich habe ihm gesagt, er soll da bleiben und bloß nicht zurückkommen." Denn manchmal, sagt er, beneidet er die Toten.

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SZ vom 04.11.2009/odg
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