Süddeutsche Zeitung

EU-Flüchtlingspolitik:"Die Videos sind grausam. Aber sie sind real"

Die "Open Arms" war zuletzt das einzige Rettungsschiff auf dem Mittelmeer. Nun darf auch sie vorübergehend nicht auslaufen. Aktivist Òscar Camps über die Bilder, die ihn auf See begleiten.

Von Karin Janker, Madrid

Òscar Camps, 1963 in Barcelona geboren, ist gelernter Rettungsschwimmer und leitete früher eine Firma, die auf Lebensrettung im Wasser spezialisiert ist. Seine Leute bewachten etwa Strände und Sportveranstaltungen. Dann kam die Flüchtlingskrise. Nachdem er die Bilder des toten syrischen Jungen Alan Kurdi gesehen hatte, erzählt Camps, habe er beschlossen, etwas zu tun. Er gründete die Nichtregierungsorganisation Open Arms, deren gleichnamiges Rettungsschiff seit 2015 im Mittelmeer unterwegs ist und Bootsflüchtlingen hilft, die in Seenot geraten sind.

SZ: Herr Camps, vorige Woche starb ein sechs Monate altes Baby an Bord Ihres Schiffs. Sie kamen zu spät, das Kind war zu lange im Wasser und konnte nicht mehr gerettet werden. Das Video mit den Schreien seiner Mutter haben Sie online gestellt. Warum?

Òscar Camps: Wir müssen auf die Situation im Mittelmeer aufmerksam machen. Die Videos und Fotos sind grausam. Aber sie sind real.

Wo befindet sich die Leiche des Babys?

Sie wurde auf Lampedusa begraben.

Und was wissen Sie über die Mutter?

Ist ebenfalls auf Lampedusa. Sie ist jung, vielleicht 25 Jahre alt. Sie kam aus Guinea, zusammen mit ihrem Mann. Wir wissen nicht, warum sie geflohen sind. Vielleicht wurde ihr Mann wegen seiner politischen Anschauungen verfolgt. Conakry, die Hauptstadt Guineas, ist ein sehr gefährlicher Ort. Das Land ist am Rande eines Bürgerkriegs. Und in den Lagern in Libyen erlebte die Familie ebenfalls Schreckliches. Sie waren schon monatelang unterwegs, ehe sie auf dieses Floß stiegen.

In welcher Lage treffen Sie die Boote auf dem Meer an?

Dieses Mal war das Boot gerade dabei auseinanderzubrechen, als unsere Helfer ankamen. Es ging um Sekunden. Meist treffen wir auf Boote, die völlig überladen sind, schon weit mit Wasser gefüllt, zwischen den Insassen schwimmt Treibstoff, der in Kombination mit dem Salzwasser zu schweren Verätzungen der Haut führt. Die Menschen haben kein Trinkwasser und kein Essen und treiben oft schon tagelang auf dem offenen Meer.

Bei dem Unglück vergangene Woche wurden Sie von der EU-Grenzkontroll-Agentur Frontex über den Schiffbruch informiert. Passiert das öfter?

Nein, es war das erste Mal seit 2018. Ein Flugzeug von Frontex hat uns angefunkt. Wir hatten schon 20 Stunden nach dem Boot gesucht, es aber nicht gefunden. Normalerweise sagen sie uns nicht Bescheid - dabei müssten sie eigentlich, so sehen es die internationalen Konventionen vor. Ich wage allerdings nicht zu hoffen, dass wir künftig wieder zusammenarbeiten. Ich vermute, das war eine Ausnahme.

Es gibt Kritiker, die Ihnen vorwerfen, die Flüchtlinge kämen überhaupt erst, weil sie hoffen können, von privaten Seenotrettern gefunden zu werden. Sie gelten als Pull-Factor, der Menschen aufs offene Meer hinauslockt.

Das ist völlig absurd. Das zentrale Mittelmeer, wo die Open Arms unterwegs ist, hat eine Fläche etwa so groß wie Deutschland. Können Sie sich vorstellen, wie wahrscheinlich es da ist, dass unser Schiff auf ein Flüchtlingsboot trifft? Dass wir es finden, selbst wenn wir wissen, dass eines unterwegs ist? Wer behauptet, die Flüchtlinge würden nur auf uns warten, war noch nie auf offener See. Die allermeisten Boote kommen auf Lampedusa an, ohne dass wir davon überhaupt Kenntnis haben.

Seit zwei Jahren engagiert sich Ihre NGO auch in den Herkunftsländern. In Senegal haben Sie das Projekt "Origen", also Ursprung, gestartet. Warum?

Viele ehemalige Fischer in Senegal haben ihre Lebensgrundlage verloren, weil die EU Verträge abschließt, die großen internationalen Fangflotten erlauben, die Fischgründe vor der Küste des Landes leer zu fischen. Die Fischer bleiben zurück, ihre Kinder kennen nur noch eine Perspektive: Europa. Wir wollen ihnen zeigen, dass sie das Geld, das sie für die gefährliche Überfahrt zahlen müssten, sinnvoller in ihrem Heimatland investieren können. Wir wollen ihnen Alternativen zeigen.

Wie finanziert Open Arms die Missionen und Projekte?

80 Prozent des Geldes kommt von privaten Spendern.

Und der Rest?

Von einzelnen Kommunen und Organisationen.

Wie viel kostet ein Tag auf See?

7050 Euro. An Bord ist ein Team von 19 Helfern, darunter eine Ärztin und eine Krankenschwester.

Wie gehen Sie derzeit an Bord mit den Risiken der Corona-Pandemie um?

Wir haben das Schiff in zwei Zonen eingeteilt: Das Innere ist die sichere Zone, hier befinden sich die Küche und die Medizinstation. Draußen ist die Zone, in der sich die aufgenommenen Flüchtlinge aufhalten. Wir tun so, als seien sie alle asymptomatische Infizierte. Das heißt, unsere Helfer tragen Schutzanzüge, als würden sie auf einer Intensivstation arbeiten, sobald sie sich nach draußen bewegen. Wir hatten bisher zwei Infizierte an Bord, kein Mitglied der Besatzung hat sich angesteckt. Und wir haben ein Labor auf dem Schiff, das PCR-Tests durchführt, ehe die Menschen an Land gehen.

Die knapp 260 Flüchtlinge, die vorige Woche gerettet wurden, befinden sich mittlerweile auf einem Quarantäneschiff vor Italien. Und die Besatzung der Open Arms?

Ist ebenfalls in Quarantäne im Hafen von Agrigento auf Sizilien. Sie darf erst in voraussichtlich zwei Wochen wieder auslaufen, wenn die italienischen Behörden ihr Okay geben.

Die Open Arms war seit einiger Zeit das einzige Rettungsschiff, das im Mittelmeer unterwegs war. Alle anderen zivilen Schiffe sind wegen angeblicher technischer Mängel festgesetzt. Wenn nun die Open Arms auch nicht mehr auslaufen darf - was passiert dann, wenn in den nächsten Tagen erneut ein Boot kentert?

Falls es kurze Zeit nach dem Auslaufen kentert, also direkt vor der libyschen Küste, kommen hoffentlich die libysche Küstenwache oder Fischer zu Hilfe. Falls es im zentralen Mittelmeer kentert, wird vermutlich niemand jemals erfahren, dass es überhaupt ein Boot gab.

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