Süddeutsche Zeitung

Online-Umfrage zur Europawahl:Ja zu Europa, na ja zu dieser EU

Die gute Nachricht: Die Wähler haben das europäische Ideal noch nicht aufgegeben. Wie eine Umfrage von SZ.de ergab, sind sie aber unzufrieden mit der bisherigen Ausgestaltung - und haben Angst vor dem Erfolg der "Idioten-Fraktion".

375 Millionen Europäer sind im Mai zur Wahl aufgerufen. Bereits im Vorfeld zeichnet sich ab, dass in einigen Mitgliedstaaten europafeindliche Parteien Zugewinne erzielen dürften, darunter die United Kingdom Independence Party (Ukip) in Großbritannien oder der Front National in Frankreich. Unsere Umfrage, entstanden in Zusammenarbeit mit europäischen Partnermedien wie dem Guardian, spiegelt dies wider. 3218 Nutzer aus ganz Europa haben sich online daran beteiligt. Es zeigt sich: Viele glauben nach wie vor an Europa als ein Projekt für Frieden und Freiheit, doch zeigen sich die Befragten auch frustriert über die demokratischen Defizite, stellen die Effizienz der Entscheidungen und die Ausgestaltung der Europäischen Union infrage.

"In Europa muss es um mehr als nur Geld gehen", schreibt Fabrice Laffargue aus der westfranzösischen Stadt Angoulême und bringt damit allgemeine Frustration über den Sparkurs der EU und die Bekämpfung der Inflation zum Ausdruck. Eine negative Haltung zur Europäischen Union schien in mehreren Kommentaren in verschiedenen Sprachen durch. Viele Befragte beschweren sich, dass das Europäische Parlament zu technokratisch sei und unter dem Einfluss von Lobbyisten stehe, oder dass die EU unter einem Demokratiedefizit leide.

Mehr Macht für das Parlament

Umgekehrt fordern viele Umfrageteilnehmer mehr Macht für das Parlament. "Das Europäische Parlament ist das einzige demokratisch gewählte Organ auf dieser Ebene", sagt Bruno Linn aus dem oberbayerischen Geisenfeld. "Die parlamentarischen Funktionen müssen nicht nur gestärkt, sondern auch erweitert werden." Ähnlich sieht das der Italiener Giovanni Saguato, der in Großbritannien lebt: "Aus meiner Sicht sollte das Parlament die Mitglieder der Kommission ernennen, schließlich ist es die einzige europäische Institution, die direkt von den Bürgern gewählt wird."

Überwältigend viele Befragte geben an, dass sie zur Wahl gehen werden, in Großbritannien und Deutschland 80 Prozent der Teilnehmer, in Spanien 69 Prozent. Dies überrascht kaum, sind die Leser doch interessiert genug, um freiwillig an einer Umfrage zum Europäischen Parlament teilzunehmen. Somit dürften sie auch sehr wahrscheinlich zur Wahl gehen. Unter den EU-Bürgern dürften sie sich in dieser Hinsicht in der Minderheit befinden. Denn die Wahlbeteiligung ist seit den ersten Wahlen 1979 stetig gesunken, bei der vergangenen Wahl im Jahr 2009 lag sie bei 43 Prozent. Für diese Wahl wird eine noch geringere Beteiligung erwartet.

Nichtwähler aus Unwissen

Ein Grund für die mangelnde Wahlbeteiligung könnte fehlende Information sein. Die Befragten zeigen sich enttäuscht von der mangelnden Berichterstattung über die Arbeit des Europäischen Parlaments. "Die französischen Medien schreiben zwei Wochen lang rauf und runter über die Homo-Ehe, aber nichts zur europäischen Gesetzgebung", schreibt ein Umfrageteilnehmer aus Saint-Julien-Gaulène im Süden Frankreichs. "Wir wissen nicht, für oder gegen wen wir stimmen sollen." Geraint Williams aus Merthyr Tydfil in Wales ergänzt: "Ich habe kein einziges Wahlkampf-Flugblatt erhalten, ich habe keine Ahnung, welche Abgeordneten im Parlament meine Region vertreten. Ich habe keine Ahnung, welche Gesetze erlassen wurden, die mich direkt betreffen und ich weiß nicht so recht, wen ich wähle."

Sorge vor dem Erfolg der rechten Parteien

Von den Befragten in Großbritannien geben manche an, für die europafeindliche Ukip stimmen zu wollen. In ihrer Begründung sind sie allerdings sehr vage. Diese Teilnehmer befinden sich in unserer Umfrage aber klar in der Minderheit, vielmehr äußern sich viele Befragte besorgt über die Auswirkungen eines recht wahrscheinlichen Erfolgs von Ukip. Hannah Lamborn aus Bristol etwa schreibt, die etablierten Parteien hätten dabei versagt, die öffentliche Debatte über EU-Einwanderung anzugehen. Dies hätte Parteien wie der Ukip die Möglichkeit gegeben "Angst und Zwiespalt zu verbreiten".

Doch auch außerhalb Großbritanniens erwähnen die Teilnehmer Ukip und andere Parteien vom rechten Rand (eine Übersicht der bekanntesten Europaskeptiker finden Sie hier). Henning Kulbarsch aus dem niedersächsischen Oldenburg schreibt: "Ich habe Angst, dass - verzeihen Sie den Ausdruck - die 'Idioten-Fraktion' massive Erfolge feiern wird. Ob nun Front National, Wahre Finnen, AfD, FPÖ oder Ukip, alle stehen für Anarchismus und bloßen Nationalismus. Zu viele dieser Vertreter werden die Arbeit von anständigen Abgeordneten erschweren."

Und was genau ist diese Arbeit? Inmitten der Verwirrung über die genaue Rolle des Parlaments heben unsere Leser Themen hervor, die ihnen besonders am Herzen liegen. Darunter der Schutz der Privatsphäre, die Asyl- und Energiepolitik, der Verbraucherschutz und die Umwelt. Oasin Share aus Manchester fügt hinzu: "Das Europäische Parlament kommt gar nicht dazu, unser Leben zu sehr zu beeinflussen, das war auch nie das Ziel. Aber ich freue mich darauf, dass europaweite Roaming-Gebühren gestrichen werden, dass ein besserer Nichtraucherschutz umgesetzt wird, dass Erasmus fortgesetzt wird sowie Strukturfonds eingesetzt werden für Regionen, die die nationalen Regierungen ignorieren."

Begeisterung für die Grundwerte der EU

Abseits von konkreten Politikbereichen zeigen sich die Befragten nach wie vor begeistert von der Existenz der Europäischen Union. Immer wieder nennen sie dauerhaften Frieden, Freizügigkeit ganz allgemein und von Arbeitnehmern im Speziellen sowie kulturellen Austausch als grundlegende Werte der EU. Nur wenige fordern das Ende der Währungsunion. Euroskeptische Teilnehmer nennen den "freien Handel" als besten Aspekt der Gemeinschaft.

Bemerkenswerterweise kommt von beiden Enden des politischen Spektrums eine sehr ähnliche Kritik bezüglich der Arbeitsweise der EU. Der 80-jährige John Dobai schreibt anerkennend, dass das Parlament "im Großen und Ganzen auf sozialdemokratischer Linie arbeite", prangert allerdings die Kosten an, die die Hin- und Herpendelei der Abgeordneten zwischen Straßburg und Brüssel verursache - eine Kritik, die auch von rechter Seite häufig kommt.

Auf der linken Seite träumt man von einer EU, die den Bürgern und nicht den Banken dienen soll. Die Sparpolitik löst immer noch wütende Reaktionen aus, insbesondere in Spanien. Wozu gibt es die EU? "Damit sie den Interessen des Finanzsektors dienen kann", meint Hugo Aristizabal, 55, aus Barcelona. "Die Mainstream-Parteien setzen weiterhin auf politischen, sozialen und wirtschaftlichen Autoritarismus."

Europäische Union am Scheideweg

Interessanterweise teilen diese Ansichten Befragte, die sich nach wie vor weitgehend begeistert vom europäischen Projekt zeigen. Christoph Sebald, 25, aus Deutschland hält die EU für "stabil, effizient und häufig erfolgreich", räumt aber ein: "Die EU ist nach wie vor hauptsächlich eine Wirtschaftsunion, die Eliten übermäßig begünstigt. In der Krise setzte die EU auf das Instrument der sozialen Kürzungen mit katastrophalen Folgen für die Programmländer der Troika."

Die Umfrage offenbart ein Bild von einer Europäischen Union am Scheideweg. Neben der Angst vor dem Erfolg der Anti-Europa-Parteien stehen die Hoffnung und Erwartung, dass dieser die etablierte Ordnung aufrütteln und schließlich zur Umsetzung von mehr Transparenz und Demokratie führen könnte. "Die etablierten Parteien müssen sich eingestehen, dass sie nicht in der Lage waren, den Wählern die 'europäische Idee' zu vermitteln", schreibt die 36-jährige Susanne Schönwälder aus München. Und wenn sie diese nicht erklären könnten, und die Wähler keine Zukunft mit den etablierten Parteien sehen, dann werde sich Europa verändern müssen. So oder so.

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