Online-Umfrage zu Deutschlands Rolle in Europa:Arrogant, dominant, autoritär

Handelt Deutschland in Europa eher als pragmatischer Retter oder machthungriger Peiniger? Mehr als 7000 Leser von "Le Monde", "The Guardian", "El País" und "La Stampa" haben online ihre Gedanken über Deutschland und Angela Merkel mitgeteilt. Die Tendenz: Je südlicher das Land, umso harscher die Meinungen.

Von Mark Rice-Oxley, The Guardian

Wenn es um Deutschland und die Deutschen geht, dann ist Europa tief gespalten. Einige sind überzeugt, dass die Eurozone ohne Deutschland schon längst auseinandergebrochen wäre. Andere finden, dass es Millionen von Südeuropäern besser gehen würde, wenn es die Eurozone nicht mehr gäbe.

Vor der Bundestagswahl, die auch für den Rest des Kontinents entscheidende Folgen haben wird, haben die Zeitungen The Guardian (Großbritannien), El País (Spanien), La Stampa (Italien) und Le Monde (Frankreich) ihre Leser über einen Online-Fragebogen gefragt, wie sie die deutsche Führungsrolle in der Eurokrise und die Abstimmung am 22. September sehen. Dieser Aufruf ergab ein erstaunlich robustes Ergebnis, da Tausende bereit waren, Dampf abzulassen und ihre aufgestauten Gefühle zu artikulieren. Mehr als 7000 Leser antworteten innerhalb weniger Stunden - selten zuvor haben sich so viele Guardian-Leser an einer Aktion beteiligt.

Solche Umfragen sind natürlich nicht statistisch relevant, weil nur bestimmte Leser sich beteiligen. Aber zwischen den Witzen und offenen Feindseligkeiten waren bestimmte Trends herauszulesen.

Der Ton in den spanischen Antworten war überwiegend negativ. "Deutschland versucht, seine Macht auszubauen und anderen Lösungen aufzuzwingen, die in Deutschland gut funktionieren", schrieb Alessandro Gimenez. "Es versucht, die Länder im Süden zu einem Reservoir billiger Arbeitskräfte zu machen, die keine Rechte oder Arbeitsplatzsicherheit haben."

Karen González sagte, Deutschland habe nicht nur von der Krise profitiert und Kernprinzipien der Europäischen Union aufgegeben. Berlin habe es sogar vorgezogen, "die Dinge lieber notdürftig zu flicken als die Probleme, die Ländern wie Spanien nun die Luft zum Atmen nehmen, wirklich an der Wurzel zu lösen. Dies könnte sich noch rächen."

Vorwurf aus dem Süden: Deutschland hat die Krise nur verschlimmert

Viele Leser sind der Meinung, dass das deutsche Beharren auf einer strengen Sparpolitik als Gegenleistung für Gelder aus den europäischen Rettungspaketen die Lage in den Krisenländern nur verschlimmert habe. Das Wachstum, das nötig sei, um die Schmerzen zu lindern, sei so ausgeblieben.

In den vergangenen Monaten hat sich die Krise der Eurozone wieder einmal für eine gewisse Zeit abgeschwächt, da die Kosten für fremdes Kapital zurückgegangen sind und der Kontinent einige zarte Anzeichen von wirtschaftlicher Erholung zeigt.

Aber Griechen wie Ioannis Pelegrinis rechnen damit, dass das Schlimmste erst noch kommt: "Die deutsche Führung richtet sich ganz klar nach ihren eigenen finanziellen Interessen, wie dies jedes souveräne Land tut. Leider tun sie das aber auf Kosten der EU und der anderen Mitglieder der Eurozone. Das ist genau die Einstellung, die letztlich zu einer Auflösung der EU führen wird."

Dumme Italiener, gnädige Nordeuropäer

Von den italienischen Lesern kamen sehr gemischte Antworten: Es gab sehr viel Kritik, aber auch einige zustimmende Aussagen. "Wir sollten den Deutschen dankbar für den Strukturwandel sein, den wir in Europa gesehen haben", schrieb Lorenzo Iorio. Ezio Dallocchio forderte seine Landsleute auf, etwas milder zu urteilen: "Sie sind ein wirtschaftliches und politisches Vorbild, das wir dummen Italiener lieber kopieren sollten als es zu hassen."

Nordeuropäer sind stärker geneigt, das Verhalten der Deutschen zu ihren Gunsten auszulegen - obwohl viele Befragte die These vertraten, dass Berlin im Sinne eigener nationaler Interessen handelt und sich eben nicht als eine wirkliche Führungskraft Europas sieht.

Darren Mills aus Großbritannien sagte: "Die Kanzlerin und ihr Land stehen fest hinter ihren Nachbarn und Partnern in Europa. Dabei wird der Pfad, den Deutschland in der Krise geht, nicht dazu führen, dass sie überall bejubelt werden oder dass es ihnen sogar selbst etwas nutzt. Führungsstärke zu zeigen, heißt ja nicht, zu 100 Prozent recht zu haben, sondern es ist die Kunst, als stark angesehen zu werden und in der vordersten Reihe zu stehen. Deutschland hat diese Führungsstärke bewiesen und wird - was noch wichtiger ist - als Führer angesehen."

Was das Thema Führungskraft betrifft, sind einige Leser der Meinung, dass Deutschland zu arrogant aufgetreten ist, während andere eher zu spüren meinten, dass Deutschland aus historischen Gründen eher widerwillig Kontrolle ausübe. All das bewog einen anonymen Leser zum Sticheln: "Wer von beiden Seiten kritisiert wird, hat wahrscheinlich die politische Mitte gefunden."

Diese politische Mitte, so schrieben einige Leser, hat es Deutschland ermöglicht, sich derart hervorzutun. "Deutschland hat es geschafft, die Europäische Zentralbank unter seine Kontrolle zu bringen (pull a coup) und kontrolliert damit fast alle. Sogar Frankreich mit seiner riesigen Volkswirtschaft und seinem beachtlichen globalen Einfluss hat alle realistischen Einflussmöglichkeiten verloren", wie der Brite Robert Lowe bemerkte.

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(Foto: oH)

Von den Wahlen am 22. September erwarten wenige Befragte große Veränderungen, was den politischen Kurs in Berlin betrifft. Die meisten sagten eine Wiederwahl Merkels voraus. Der Italiener Mattia Tognoni meinte: "Merkels Sieg wird den Ländern, die Schwierigkeiten haben, leider nicht helfen. Ohnehin glaube ich nicht, dass die deutsche Bevölkerung ein Interesse daran hat, Menschen in anderen Ländern zu helfen, und das wird der Wahlsieger, wer auch immer es wird, im Kopf behalten."

Hoffnung auf Steinbrück

Doch nicht alle haben SPD-Herausforderer Peer Steinbrück schon abgeschrieben. Willy Tinner, der in der Schweiz lebt, glaubt, dass die Wahlen "Auswirkungen auf die europäische Politik haben werden. Wenn die Linken gewinnen, können wir die desaströse Sparpolitik endlich hinter uns lassen."

Was Merkel angeht, so sehen einige einen dickköpfigen Kontrollfreak in ihr, der lediglich im Interesse des eigenen Landes handelt. Andere sind gnädiger und sehen sie als Pragmatikerin, die das große Ganze im Blick hat. Die Niederländerin Anouk van den Waal argumentiert: "Wenn es eine Maschine gäbe, die Führungskräfte für Krisenzeiten herstellt, dann wäre Frau Merkel wahrscheinlich eine Politikerin, die da herauskommen könnte. Für viele Europäer scheint sie keine Ideologie zu haben, sie ist pragmatisch, und ich denke nicht, dass viele sagen könnten, ob sie nun links oder rechts ist. Sie geht keine Risiken ein, sie ist auf ruhige Art stark, sie ist konsensorientiert."

Manche Leser vertreten die Ansicht, dass Merkel richtig gehandelt habe, als sie als Gegenleistung zu den Rettungspaketen auf Reformen bestand. Aber sie kritisieren die Art und Weise, wie sie ihren Wunsch durchgesetzt hat. Es sei ihr nicht gelungen, ihren Partnern ihren Kurs schmackhaft zu machen. Und je weiter südlich man sich in Europa umhört, desto harscher werden die Reaktionen auf die Bundeskanzlerin.

"Merkel hat nur an die deutsche Wirtschaft und damit indirekt auch an die Stimmen der deutschen Wähler gedacht", schrieb David Revilla Velasco aus Spanien. "Ein anderer Kanzler, vielleicht sogar aus der gleichen Partei, hätte eine Idee für Europa gehabt, die weniger das eigene Land im Blick gehabt hätte. Er wäre, trotz des Risikos, sich selbst zu opfern, stärker für die Währung und für Europa eingetreten. Merkels Rezept ist 'Ich will heute Brot essen, und die Anderen sollen morgen hungern'."

Während dieser Spanier eine kulinarische Metapher wählt, formuliert der Franzose Jacques Lecucq eine typische philosophische Zusammenfassung: "Mark oder Euro - Deutschland will eine starke Währung. Das wollen seine Nachbarstaaten nicht. Jetzt hat Deutschland alle seine Ziele erreicht und Angela streicht die Dividende ein. Haben die Deutschen den Fehler gemacht, stark zu bleiben? Oder haben wir richtig gehandelt, als wir schwach wurden?"

Mitarbeit: Carmen Fishwick, Edmond Wax und Jessica Shepherd

Alle Texte der sechsseitigen Europa-Beilagelesen Sie in der Mittwochs-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung und in der Digitalen Ausgabe. Der Europa-Schwerpunkt ist Teil einer Kooperation mit El País (Madrid),The Guardian (London), Gazeta Wyborcza (Warschau), La Stampa (Turin) und Le Monde (Paris) entstanden ist.

Weitere Texte, die im Rahmen der "Europa"-Kooperation der SZ mit fünf europäischen Zeitungen erschienen sind, finden Sie auf dieser Übersichtseite.

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