Olympia:Spitze im Durchziehen

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Die meisten Japaner wollen laut Umfragen die Spiele gar nicht mehr im Land haben: Anti-Olympia-Protest Mitte Mai in Tokio. (Foto: Charly Triballeau/AFP)

Die Olympia-Organisatoren haben das Weitermachen um jeden Preis immer wieder beschworen. Darauf beharren sie auch in Corona-Zeiten.

Von Holger Gertz

Keine Formulierung beschreibt das Selbstverständnis des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) so treffend wie jener Satz des damaligen IOC-Chefs Avery Brundage aus dem fernen Jahr 1972: "The games must go on." So sagte er es bei der Trauerfeier für die Opfer des Attentats bei den Spielen von München. Palästinensische Terroristen hatten das israelische Team überfallen, am Ende waren elf israelische Olympioniken tot, aber die Spiele mussten weitergehen, verfügte Brundage. Und so wurde, nach einer nur eintägigen Unterbrechung, in München wieder gefochten, gerannt, geritten. Argument der Organisatoren: Man dürfe doch nicht vor dem Terror kapitulieren. Nicht nur Beobachter aus Israel allerdings hielten und halten die Fortsetzung der Spiele für wenigstens instinktlos.

München 1972 ist ein Beispiel für eine olympische Kerndisziplin: Weitermachen, um jeden Preis. Die Spiele der Neuzeit fanden immer statt, wenn nicht gerade Weltkrieg war: 1920 in Antwerpen, noch im Schatten der Spanischen Grippe. 1980 in Moskau, trotz der Sowjet-Intervention in Afghanistan und des Boykotts vieler Nationen aus dem Westen. 1984 in Los Angeles, trotz des Boykotts des Ostblocks. 2002 in Salt Lake City, nur Monate nach Nine Eleven. Und natürlich bei vielen anderen Gelegenheiten, trotz der Proteste von Umweltschützern und Menschenrechtlern. Ja, natürlich ist Olympia eine Geldmaschine, und nur Spiele, die stattfinden, lassen sich vermakeln und vermarkten. Aber es geht noch tiefer: Das Standhalten und Ausharren um jeden Preis ist längst Teil der Identität der olympischen Bewegung geworden und Motiv ihrer Propaganda, die pathetisch das Überdauernde verklärt. "Freunde fürs Leben" heißt eine Hymne von Barcelona 1992. "Die ewige Flamme" ein Film über Peking 2008, "Legenden leben weiter" ein Mehrteiler auf dem Olympischen Filmkanal.

So liegt das starre Festhalten der olympischen Zeremonienmeister an Tokio voll in der Tradition. The games must go on. Auch gegen jede Vernunft; auch mitten in einer Pandemie, die nun schon den zweiten Anlauf auf die Spiele von Tokio torpediert. 2020 beschloss das vom Deutschen Thomas Bach geführte IOC maximal spät, die Spiele zu verschieben, um ein Jahr. Die Verlegung auf 2022 wäre weitsichtiger gewesen, hätte aber von den Strategen des IOC verlangt, die Pandemie und ihre Wirkungen entsprechend ernst zu nehmen - und sich selbst weniger wichtig. 2021 schien von vorneherein ein ehrgeiziges Ziel. Jetzt ist es bald so weit, aber Corona wütet in Teilen der Welt weiter. Und aus Japan kommen die fürs IOC so alarmierenden Berichte, dass ein Großteil der Bürger dort die Spiele gar nicht mehr will.

Beim IOC haben sie zuletzt bekannt gegeben, dass Pfizer und Biontech Impfstoff für Olympiastarter spenden werden. Diese Initiative besänftigt die Leute in Japan aber offenbar kaum. Die Impfquote dort ist unterdurchschnittlich, die Bevölkerung überdurchschnittlich alt. Vielleicht hätte es die Stimmung gedreht, wenn das IOC dafür gesorgt hätte, nicht die Gäste, sondern die gastgebende Bevölkerung durchzuimpfen. Aber das liegt natürlich nicht in der Macht des IOC; das Virus zeigt den Olympia-Machern, wie machtlos sie eigentlich sind.

Wenige Optionen bleiben. Alle machen sichtbar, wie kalt und kalkulierend die Institution IOC ist. Entweder die Sache wird durchgezogen. Wenn die Pandemie dadurch noch mal befeuert wird, wären die olympischen Möchtegern-Friedensstifter womöglich zum Superspreader mutiert. Oder: Die Spiele werden doch noch abgesagt. Dann hätten die Athleten der Welt zwar "mit glühenden Herzen" (Slogan von Vancouver 2010) trainiert - aber eben auch vergeblich. Und das in der Ära des früheren Olympiafechters Bach, der bei Zeremonien so gern die überragende Bedeutung der Athleten betont.

Maskenball aus einem Mutanten-Stadl in Fernost

Option drei: Alles geht halbwegs glatt bei den Corona Games von Tokio 2021. Keine Fans aus dem Ausland; Sportler und Funktionäre kommunizieren von Blase zu Blase; die Medienleute werden in ihrer Bewegungsfreiheit und damit ihrer Recherchemöglichkeit enorm eingeschränkt und können diese Reglementierung nicht mal beklagen, ohne anmaßend zu wirken. Ist ja alles wegen Corona. Gewährleistet sein werden trotzdem oder gerade deshalb jene Fernsehbilder, die die Welt angeblich sehen will. Olympische Heldengeschichten, live und in Farbe - wenn auch als Maskenball aus einem Mutanten-Stadl in Fernost. Sobald die Athleten losrennen, werden Störgeräusche vom dicken Bilderteppich geschluckt, so war es doch immer.

Die Bilder aus Tokio allerdings werden mit Trauerflor geschmückt sein, denn die Pandemie - so akut sie noch ist - wird beim Betrachten und Schauen immer mitgedacht. Und sie beweist: Der Sport, so wichtig er sein möchte, ist nichtig vor dieser Kulisse. In Südamerika packt die nächste Welle gerade zu. Eine Umfrage hat ergeben: Jeder vierte der brasilianischen Olympioniken hat Corona-Todesfälle im Bekanntenkreis zu beklagen. Brasilianische Fußball-Nationalspieler denken offenbar an einen Boykott der Copa América im eigenen Land, wegen Corona. Und die Nachrichten aus Indien von den vielen Corona-Opfern berühren natürlich auch die Geschichten und die Geschichte von Olympia. Maharaj Krishan Kaushik und Ravindra Pal Singh zum Beispiel standen 1980 in der indischen Hockey-Mannschaft, die in Moskau die Goldmedaille gewann. Zwei Legenden. Und Legenden leben ja weiter. Allerdings nur in den Parolen des olympischen Betriebs.

Denn Maharaj Krishan Kaushik und Ravindra Pal Singh sind Anfang Mai gestorben. Beide am selben Tag. Beide an Covid-19.

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