Olympia-Boykott:Hüpfen und Laufen im Kalten Krieg

Die Geschichte des Olympia-Boykotts zeigt, dass der internationale Sport schon immer ein politischer Kampfplatz war.

Rainer Lindner

Der 1. Januar 1980 war kein beschaulicher Neujahrstag. In Brüssel kamen die Vertreter der Nato-Staaten zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen, die sich der Verlegung von Truppen der sowjetischen Streitkräfte in den Norden Afghanistans widmete. Wenige Tage zuvor, am 27. Dezember 1979, hatte die "Afghanistan-Kommission" des Politbüros unter Leonid Breschnews Leitung den Marschbefehl erteilt.

Olympische Spiele, Moskau, dpa

Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Moskau 1980: Die Boykottaufrufe der USA fanden nur wenig Widerhall.

(Foto: Foto: dpa)

Als in Reaktion auf die Ereignisse der deutsche Nato-Botschafter Rolf Pauls bei dem Brüsseler Treffen erstmals den Boykott der bevorstehenden Olympischen Spiele von Moskau erwog, war die Tragweite dieser Idee noch nicht abzusehen. Während die Bundesregierung zunächst zurückhaltend reagierte, fand ein Boykott der bevorstehenden Moskauer Sommerspiele bei US-Präsident Jimmy Carter große Zustimmung.

Die modernen Olympischen Spiele waren nie nur eine Arena für sportliche Höchstleistungen, sondern immer auch ein Kampfplatz um politische Ideale und Ziele. Während Deutschland 1920 und 1924 noch von Olympia ausgeschlossen blieb, unterlagen die Spiele Hitlers und der Nationalsozialisten keinem formalen Boykott.

In der internationalen Debatte 1936 äußerte der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees Baillet-Latour ausweichend: "Die Olympischen Spiele finden eigentlich nicht in Berlin, Los Angeles oder Amsterdam statt. Wenn die olympische Flagge mit den fünf Ringen über einem Stadion gehisst wird, so wird aus ihm ein heiliges olympisches Territorium; die Spiele werden an sich und nicht zuletzt aus praktischen Erwägungen dann im antiken Olympia ausgetragen."

Symbolischer Ort politischer Proteste

Die beiden folgenden Olympischen Sommerspiele 1940, 1944 fielen jenem Krieg zum Opfer, den die Herren der Propagandaspiele von 1936 vom Zaune gebrochen hatten.

Auch die Sommerspiele von Melbourne 1956 wurden zum symbolischen Ort politischer Proteste. Diese wurden einerseits von Spanien, der Schweiz und den Niederlanden gegen den Einmarsch der Sowjetunion in Ungarn erhoben, während andererseits Ägypten, der Libanon und Irak auf die Suez-Krise reagierten; hier entkoppelte sich das Protestziel erstmals vom Austragungsland selbst.

Dies galt auch für die olympischen Wettkämpfe von Montreal. 441 Athleten aus 29 überwiegend afrikanischen und arabischen Staaten wollten durch ihre Nichtteilnahme die Beteiligung Neuseelands verhindern, das enge politische und wirtschaftliche Kontakte zum Apartheidregime von Südafrika aufgebaut hatte.

Der Olympia-Boykott 1980 war in den USA und der westlichen Welt keineswegs ein Reflex auf antidemokratische Zustände in der Sowjetunion. Präsident Carter, der sich nach der Verurteilung des russischen Dissidenten Schtscharanskij und anderer Helsinki-Aktivisten 1978 noch eindeutig gegen eine Vermischung von Politik und Sport gewandt hatte und einer Nichtteilnahme von US-Sportlern an Olympia entgegengetreten war, sah auch im Schauprozess gegen Andrej Sacharow am 22. Januar 1980 nicht das entscheidende Argument dafür, bei den Verbündeten um die Unterstützung der dann schon geborenen Boykottidee zu werben.

Vielmehr muss die Entscheidung als unmittelbare Reaktion auf das militärische Operieren der Sowjet-Truppen betrachtet werden. Die Sowjetunion begründete den Einmarsch mit der Islamisierungsgefahr entlang der 2500 Kilometer langen Grenze, die Afghanistan von den zentralasiatischen Sowjetrepubliken trennte, sowie als Reaktion auf den "Nato-Doppelbeschluss" vom 12. Dezember 1979. Die Afghanistan-Intervention und der Rüstungswettlauf lösten eine weltpolitische Krise aus, die ihre symbolische Zuspitzung im Olympiastreit zwischen Ost und West fand.

Hüpfen und Laufen im Kalten Krieg

Washington ging in zwei Schritten vor. Zunächst erfolgte am 15. Januar 1980 eine Boykottdrohung, die mit einem (wenig Erfolg versprechenden) Ultimatum zu einem Rückzug der sowjetischen Streitkräfte bis zum 20. Februar verknüpft wurde. Die Boykott-Strategie war jedoch von erheblichen Rückschlägen für die US-Diplomatie begleitet. Der in fünf afrikanische Staaten zur Erläuterung der US-Boykottpolitik entsandte ehemalige Boxchampion Muhammad Ali wurde von zwei Regierungen gar nicht empfangen.

Die Drohung von Außenminister Cyrus Vance gegenüber dem IOC, es möge die Spiele in Moskau absetzen oder verschieben, stieß nicht nur bei dessen Präsidenten Lord Killanin auf wenig Gegenliebe, sondern sorgte überdies für diplomatische Spannungen mit nationalen Regierungen. Nicht zuletzt die westeuropäischen Hauptstädte waren in dieser Frage gespalten und keineswegs - wie ursprünglich in Washington erwartet - unmittelbar zu einer Boykott-Koalition zu bewegen.

"Geleitet vom Weltfrieden"

Anlässlich eines außerordentlichen Treffen von elf NOKs westeuropäischer Staaten am 1. Februar 1980 in Frankfurt am Main erklärten acht NOKs, darunter Frankreich, Italien und insbesondere Großbritannien, selbst unabhängig von den Positionen, die ihre Regierungen vortrugen, unter allen Umständen Sportler nach Moskau zu entsenden. In Großbritannien setzte sich die British Olympic Association schon am 25. März 1980 über die eindringlichen Forderungen der Regierung Thatcher hinweg und beschloss die Annahme der Moskauer Einladung.

Die US-Strategie, mindestens 100 Staaten zum Boykott der Moskauer Spiele zu bewegen, scheiterte. An den Spielen nahmen 62 Staaten nicht teil, drei weitere Staaten (Iran, Mozambique, Qatar) fehlten, da sie keine Einladung erhalten hatten. Während die USA Kanada und zahlreiche süd- und lateinamerikanischen Staaten hinter sich versammeln konnten, schlossen sich aus Europa lediglich Albanien, Liechtenstein, Monaco, Norwegen, Israel und die Bundesrepublik dem Boykott an.

In Asien schlug sich China, das nach zwei Jahrzehnten des Ausschlusses erst im Dezember 1979 in die olympische Bewegung zurückgekehrt war, schnell auf die Seite der Boykott-Befürworter. Der stellvertretende Vorsitzende des Chinesischen Olympischen Komitees Li Menghua verkündete am 26. Januar 1980, dass es durchaus richtig sei, die Olympischen Sommerspiele in Moskau zu boykottieren oder den Austragungsort zu ändern. China werde die Entwicklungen beobachten und sich in seiner Entscheidung "von der Bewahrung des Weltfriedens und des Olympischen Geistes" leiten lassen.

In Deutschland war die Situation vertrackter. Die sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt stellte sich zunächst gegen einen Boykott. Innenminister Gerhard Baum verkündete im Januar 1980, dass der Sport als Instrument zur Durchsetzung politischer Ziele ungeeignet sei. Außenminister Genscher äußerte gegenüber dem sowjetischen Botschafter in Bonn die Erwartung der Bundesrepublik, dass Moskau "die Voraussetzungen für alle Staaten schaffe, an den Olympischen Spielen teilzunehmen".

BRD blieb Spielen fern

Willy Brandt wandte sich strikt gegen den Boykott-Vorschlag des US-Präsidenten. Kanzler Schmidt stand vor der Entscheidung, die Ergebnisse und Hoffnungen der "Ostpolitik" aufs Spiel zu setzen oder die Beziehungen zu Washington in einer angespannten weltpolitischen Krisensituation zu gefährden. Erst nach intensiven Gesprächen in Washington im März und internen wie öffentlichen Auseinandersetzungen teilte Schmidt am 23. April 1980 dem Bundestag die Boykottempfehlung der Bundesregierung mit.

In seiner entscheidenden Sitzung vom 15. Mai stimmten 40 von 59 NOK-Mitgliedern für den Boykott. Die Bundesrepublik war der einzige der großen westeuropäischen Staaten, die den Spielen fernblieb, während die Mehrzahl der EU-Staaten, darunter Frankreich, Großbritannien, Italien, die Benelux-Staaten, aber auch Portugal, Spanien und die Schweiz olympische Delegationen nach Moskau entsandten, sie allerdings nur unter der Olympischen Flagge antreten ließen.

Frankreich, Italien und England überließen die Entscheidung ihren Athleten, ob sie an den Spielen teilnehmen wollten. Belgien, Italien, Luxemburg, Niederlande, San Marino, Frankreich und die Schweiz blieben der pompösen Eröffnungsfeier im Luschniki-Park demonstrativ fern.

Hüpfen und Laufen im Kalten Krieg

Bundeskanzler Schmidt dachte über die Spiele hinaus. Als er am 1. Juli 1980, wenige Tage vor der Eröffnungsfeier, Moskau besuchte, herrschte Funkstille zwischen Washington und Moskau; doch die Bundesregierung hielt auch während des Boykotts an der Strategie fest, "unterhalb" der Supermachtauseinandersetzungen die Kommunikationswege offen zu halten. Die erfolgreiche diplomatische Mission vom Juli 1980 sollte den entscheidenden Impuls für die Wiederaufnahme der strategischen Abrüstungs- und Rüstungskontrollgespräche zwischen den USA und der Sowjetunion geben.

Das Leben in Moskau ging weiter. Ungeachtet des Boykotts wurde auf dem Gelände der bundesdeutschen Botschaft in Moskau ein bereits 1979 bestelltes Gartenhaus aufgestellt, da die Botschaft für gesellschaftliche Anlässe und Vortragsveranstaltungen dringende neue Räumlichkeiten benötigte. Der Botschafter selbst war - wie alle Botschafter der am Boykott beteiligten Staaten - weisungsgemäß zum Zeitpunkt der Spiele nicht in Moskau anwesend.

Die wenigen angereisten Journalisten bemerkten schnell, dass Breschnew zur Ausrichtung der Sommerspiele einen Kraftakt sowjetischer Kommandowirtschaft angeordnet hatte. Die Republiken hatten Sonderdeputate an das Moskauer Organisationskomitee zu entrichten; die Volkswirtschaft agierte im "olympischen Regime" mit Sonderschichten und Zusatzforderungen. Subotniks gehörten zum Alltag der Moskauer. Die Geschäfte und Märkte waren wie nie zuvor gefüllt; kriminelle und auffällige "soziale Elemente" wurden mit Bussen aus der Stadt in eigens vorbereitete Dörfer gebracht.

Revanche in Los Angeles

Hotels und Restaurants boten exklusive Serviceleistungen für ausländische Gäste an. Die Journalisten berichteten aber auch von Bomben, die während der Spiele auf Afghanistan und seine Menschen fielen. Nach dem Stalinschen Terror der dreißiger Jahre geriet das Sowjetregime spätestens im Sommer 1980 in eine Legitimitätskrise, von der es sich nicht wieder erholen sollte.

Die Moskauer Boykottspiele wurden so zum letzten symbolischen Ort des Kalten Krieges zwischen Ost und West. Zwar folgte vier Jahre später mit dem Boykott der Olympischen Spiele von Los Angeles die Revanche. Im sowjetischen Fernsehen wurde nicht eine Minute von den Olympischen Spielen berichtet. Das besetzte Afghanistan fehlte ebenso wie die DDR, die Tschechoslowakei, Polen, Ungarn, Bulgarien; aber auch Vietnam, Nord Korea und Kuba schlossen sich erwartungsgemäß dem vorerst letzten Boykott der olympischen Geschichte an.

Die 1986 vom US-Medienunternehmer Ted Turner in Moskau organisierten "Goodwill Games" versammelten über 3000 Sportler aus 79 Nationen. Lautsprecher und Gesichter verkündeten in der sowjetischen Hauptstadt gleichzeitig den "Wind of Change".

Das Zeitalter des Boykotts, das in Montreal begann, war mit den Spielen 1988 fast zeitgleich zum Ende des Kalten Krieges beendet. An individuellen Gesten und Symbolen politischer Willensbekundungen, die von Sportlern oder Nationen in die Symbolordnung Olympias eingebaut worden sind, fehlte es bei späteren olympischen Spielen nie. Schon in Moskau widerstanden die Sportler der polnische Delegation den politischen Vorgaben - und sangen ihren Stabhochspringer Wladyslaw Kozakiewicz mit "Noch ist Polen nicht verloren" zum Olympiasieg.

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin und lehrt an der Universität Konstanz.

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