SPD:Wilde Tage

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Bundeskanzler Olaf Scholz mit seinen Mitarbeitern im Kanzleramt. (Foto: Maja Hitij/Getty Images)

Vor einer Woche hieß es bei den Sozialdemokraten, ein Austausch des Kanzlerkandidaten sei kein Thema. Dann entwickelte sich eine gewisse Dynamik. Die Rekonstruktion aufregender Zeiten bei der SPD.

Von Georg Ismar

Die SPD ist eine komplizierte Partei, rund 360 000 Mitglieder, viele Flügel, Interessen und Genossen, die sich mögen oder auch nicht so. Und seit Jahren gibt es bei vielen an der Basis dieses Gefühl, dass da in Berlin einige weit weg sind von der Realität der Menschen im Land. Früher gab es noch in jedem SPD-Ortsverein den Kassierer, der von Tür zu Tür marschierte, die Mitgliedsbeiträge in Empfang nahm und die Nöte, Sorgen und Beschwerden genau mitbekam. Glaubt man Stimmen an der Basis, dann würde er in diesen Tagen hören, dass es mit Olaf Scholz als Kanzlerkandidat nichts werden kann, weil er, so sagt es ein Bundestagsabgeordneter, bei vielen „unten durch“ sei.

Noch vor einer guten Woche, am Rande der Sitzung der SPD-Bundestagsfraktion, da hieß es, die Kanzlerkandidatendebatte, das sei eine reine Mediendebatte. Dann fuhren die 207 Abgeordneten – nach einer nicht gerade als Befreiungsschlag empfundenen Regierungserklärung von Kanzler Scholz – zurück in die Wahlkreise. Und erlebten dort eine ganz andere Stimmung. Mitglieder, die sagten, für Scholz hänge man keine Plakate auf. Die CDU dürfte sich erinnert fühlen an die Basisbewegung 2021 gegen Armin Laschet. Hier setzte sich die Parteiführung durch, verwehrte Markus Söder die Kanzlerkandidatur, das Ergebnis ist bekannt.

Und dann meldete sich Franz Müntefering zu Wort

Es war Freitagnachmittag, als ein gut vernetzter SPD-Politiker aus Niedersachsen prophezeite, dass es eine Rebellion von unten geben werde, gegen die von der Partei- und Fraktionsführung vehement verteidigte Kanzlerkandidatur von Scholz. Binnen einer, maximal zwei Wochen werde die Entscheidung fallen, wegen der „Wahlsieg-Konferenz“ am 30. November, wo der designierte Kanzlerkandidat eine Rede halten soll. Am Wochenende ergab sich kein klares Bild. Der Bochumer SPD-Vorsitzende Serdar Yüksel zum Beispiel sprach von einer Stimmung 80 zu 20 für eine Kandidatur von Verteidigungsminister Boris Pistorius, der Bochumer Bundestagsabgeordnete Axel Schäfer ließ wiederum bei einer Sitzung mit örtlichen Funktionären abstimmen: 70 zu 30 für Scholz.

„In der Politik sollte man nie irgendetwas ausschließen“: Verteidigungsminister Boris Pistorius (rechts), hier im Gespräch mit SPD-Chef Lars Klingbeil. (Foto: Kay Nietfeld/dpa)

Dann meldete sich der frühere SPD-Vorsitzende Franz Müntefering zu Wort. Es gebe kein Vorrecht auf eine Wiederwahl, sagte er, auch andere Kandidaturen seien möglich. Ohne Scholz und Pistorius beim Namen zu nennen, entfachte das weitere Dynamik. Müntefering fürchtete offenbar, dass sich eine gefährliche Kluft zwischen Teilen der Parteibasis und der Führung auftun könnte. Am Sonntag sagte als erster Bundestagsabgeordneter daraufhin Joe Weingarten aus Rheinland-Pfalz öffentlich in der Süddeutschen Zeitung, dass man mit Pistorius ins Rennen gehen solle. „Er hat die Tatkraft, die Nähe zu den Menschen und die Fähigkeit, auch in klarem Deutsch zu sagen, was zu tun ist. Und das braucht unser Land jetzt.“

Erinnerungen an den Sturz von Andrea Nahles 2019 kamen auf, die damalige Partei- und Fraktionsvorsitzende trat nach der schweren Niederlage bei der Europawahl zurück. Damals hatte sich eine Welle aufgebaut, die ihren Ursprung an der Basis und in kritischen Wortmeldungen von Hinterbänklern im Bundestag hatte. Am Sonntagabend schließlich versuchte SPD-Chef Lars Klingbeil in der Sendung von Caren Miosga in der ARD, die Debatte zu befrieden. Scholz sei der Kandidat, zudem sich Partei- und Fraktionsführung bekannt hätten, ebenso mehrere Ministerpräsidenten, er werde Kanzlerkandidat. Immer wieder betont er, es gebe da kein Wackeln.

Aber es rächte sich nun, dass die Parteispitze Scholz nicht gleich nach dem Koalitionsbruch am 6. November, als er unmittelbar danach für die Entlassung von Finanzminister Christian Lindner (FDP) in der Bundestagsfraktion gefeiert wurde, offiziell als Kandidaten nominiert hatte. So gelang es Klingbeil und seiner Co-Chefin Saskia Esken trotz aller Beschwichtigungen und Solidaritätsadressen an Scholz nicht, die Debatte einzudämmen.

Scholz startete am Sonntag zum G-20-Gipfel nach Brasilien, er verkürzte bereits die Reise, strich einen danach geplanten Besuch in Mexiko. In einem Statement am Berliner Regierungsterminal zeigte er sich vor dem Abflug nach Rio zuversichtlich: „Die SPD und ich, wir sind bereit, in diese Auseinandersetzung zu ziehen, übrigens mit dem Ziel zu gewinnen.“

Dann aber schloss Boris Pistorius im ARD-„Bericht aus Berlin“ eine Kandidatur nicht kategorisch aus. Das war zweideutig, aber eindeutig war damit eine für viele Mitglieder attraktive Alternative, die zumindest auf einen besseren Wahlausgang als mit Scholz hoffen lässt, nicht vom Tisch. Pistorius beteuerte zwar, dass Scholz als Kandidat gesetzt sei. Die Frage nach einer eigenen Kandidatur sei daher völlig hypothetisch. Aber einen Tag später, bei der Reihe „Menschen in Europa“ der Mediengruppe Bayern, ergänzte er: „In der Politik sollte man nie irgendetwas ausschließen, ganz egal, worum es geht.“ Und fügte salopp hinzu: „Das Einzige, was ich definitiv ausschließen kann, ist, dass ich noch Papst werde.“

Fast gleichzeitig machte am Montagabend eine Stellungnahme zweier SPD-Bundestagsabgeordneten die Runde. Aber es waren nicht irgendwelche: Wiebke Esdar und Dirk Wiese sind die Vorsitzenden der NRW-Landesgruppe in der SPD-Bundestagsfraktion, der größten Landesgruppe. Und sie vertreten auch noch ganz unterschiedliche Lager. Esdar ist Sprecherin der Parlamentarischen Linken, Dirk Wiese Sprecher des Seeheimer Kreises, der Konservativen in der Fraktion. „Das aktuelle Ansehen von Bundeskanzler Olaf Scholz ist stark mit der Ampelkoalition verknüpft. Mit einigem Abstand werden seine Arbeit und seine Entscheidungen für unser Land mit Sicherheit weitaus positiver beurteilt werden“, betonten Esdar und Wiese in der Stellungnahme. Dennoch gebe es in der SPD und weit darüber hinaus jetzt eine Debatte, „die auch wir alle in unseren Wahlkreisen wahrnehmen“. Im Zentrum stehe die Frage, was die beste Aufstellung für die Bundeswahl sei. „Dabei hören wir viel Zuspruch für Boris Pistorius.“

Viele Abgeordnete fürchten um ihre Mandate

Allgemein wurde das sofort als deutliche Distanzierung von Scholz aufgefasst – und setzte einiges in Gang. Vor allem der Hinweis, dass „mit einigem Abstand“ sicher anders auf die Leistungen von Scholz geschaut werde, wurde wie ein Abschiedsgruß interpretiert. Esdar war einst auch eine treibende Kraft der Bewegung, die Olaf Scholz und Klara Geywitz 2019 als Parteivorsitzende verhinderte.

Angesichts der Umfragewerte fürchten viele Abgeordnete den Mandatsverlust, die Fraktion mit ihren 207 Mitgliedern könnte sich halbieren. Ein Abgeordneter wertete die etwas kryptisch anmutende Intervention aus NRW als Aufforderung an Scholz, selbst in Würde aufzuhören und die Reißleine zu ziehen. „Sonst wird sie gezogen.“

Der Seeheimer Kreis war bisher stets einer der größten Unterstützer von Scholz, bei Empfängen wurden gerne Kaffeetassen, Biergläser und Jutebeutel mit dem Konterfei des Kanzlers verteilt. Auch beim linken Flügel genoss Scholz bisher breiten Rückhalt wegen seines bedächtigen Kurses im Hinblick auf die Ukraine und sein Nein zu einer Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern. Pistorius mag zwar der derzeit beliebteste Politiker sein, vielleicht ist er auch nur eine Projektionsfläche, aber intern war er mit seinen Positionen zuletzt eher in der Defensive. Das Wort „kriegstüchtig“ benutzt er kaum noch.

Nach der Erklärung Esdars und Wieses war es am Dienstag so, als hätte sich ein Ventil geöffnet. Der Oberbürgermeister von Gotha in Thüringen, Knut Kreuch, prophezeite im ARD-Morgenmagazin seiner SPD „eine furchtbare Niederlage“, falls sie mit Scholz in den Wahlkampf zöge. Der frühere SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel kritisierte scharf das Krisenmanagement von Klingbeil und Esken und stellte sich gegen Scholz, dem er schon länger in herzlicher Abneigung verbunden ist: „An der Basis der SPD steigt jeden Tag der Widerstand gegen ein Weiter-so mit Kanzler Scholz. Und der SPD-Führung fallen nur Beschwichtigungen und Ergebenheitsadressen ein.“

Altkanzler Gerhard Schröder sagte der SZ am Dienstag bei einem Besuch in seiner Kanzlei in Hannover staatstragend: „Jede Debatte über einen amtierenden Bundeskanzler, den man nicht austauschen kann, schadet allen.“ Die Partei könne doch nicht „den eigenen Bundeskanzler demontieren“. Was Schröder umtreibt: Ein Kanzler der SPD, der noch Monate im Amt sein wird, und daneben ein Kanzlerkandidat Pistorius, der sich irgendwie von Scholz und seiner gescheiterten Ampelkoalition absetzen muss – das passt nicht zusammen.

Schließlich wurde für Dienstagabend eine Telefonkonferenz der SPD-Führungsspitze anberaumt, Ergebnis offen. Der Mittwoch könnte ein Tag der Entscheidung werden, zumindest sind sich alle in einem einig: Das Problem muss jetzt schnell gelöst werden.

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