Ohne Eltern in Deutschland:Wie die Alterseinschätzung bei jugendlichen Flüchtlingen funktioniert

  • Minderjährige unbegleitete Flüchtlinge können nicht abgeschoben werden und bekommen in Deutschland besondere Betreuung.
  • Doch für die Einschätzung des Alters gibt es verschiedene Methoden. Die Jugendämter schätzen die Reife nach eingängigen Gesprächen.
  • In anderen Städten wird außerdem eine medizinische Untersuchung verlangt. Doch diese Methode ist stark umstritten.

Von Barbara Galaktionow

Sie kommen ohne Eltern oder andere Verwandte. Tausende jugendliche Flüchtlinge aus Somalia, dem Irak, Afghanistan oder Syrien erreichen jährlich Deutschland. Ungefähr 90 Prozent, so die Schätzungen, sind junge Männer. Ob es sich bei ihnen um Minderjährige oder Erwachsene handelt - diese Frage müssen die Behörden nach deren Ankunft klären, wenn zum Beispiel entsprechende Papiere fehlen. Denn das Alter entscheidet über den Status der Flüchtlinge.

Abschiebung bei Minderjährigen unmöglich

Unter 18-Jährige genießen besonderen Schutz. Das hat die EU Mitte 2013 beschlossen. "Bei allen Entscheidungen, die allein reisende Kinder und Jugendliche betreffen, ist das Kindeswohl vorrangig zu beachten", sagt Ulrike Schwarz, Juristin beim Bundesfachverband für Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge (UMF).

Unbegleitete Minderjährige dürfen nicht abgeschoben werden. Sie sind aber auch ausgenommen vom sogenannten Dublin-Verfahren. Sie dürfen also, selbst wenn festgestellt wird, dass sie über Griechenland, Italien, Bulgarien oder ein anderes EU-Land eingereist sind, nicht dorthin zurückverwiesen werden, wenn dies dem Kindeswohl widerspricht. Und sollten sie nachweisbar Verwandte in Schweden haben, so müssen sie nicht in Deutschland bleiben.

Auch innerhalb des deutschen Systems haben minderjährige Flüchtlinge besondere Rechte. Etwa 6500 wurden nach Angaben des Statistischen Bundesamts 2013 in Obhut genommen - wobei unklar bleibt, wie viele von ihnen tatsächlich als minderjährig anerkannt wurden (mehr über die unklare Zahlenlage hier).

Anstatt in großen Gemeinschaftsunterkünften werden sie in Jugendhilfeeinrichtungen aufgenommen, wo sie rund um die Uhr kompetente Betreuer haben. Unter 16-Jährige werden relativ schnell zur Schule geschickt. Außerdem dürfen Minderjährige nicht einfach im Bundesland "umverteilt" werden wie erwachsene Flüchtlinge.

Wie Jugendämter das Alter festlegen

Doch wer schätzt eigentlich das Alter der unbegleiteten jungen Flüchtlinge in Deutschland? Klar ist, dass erst einmal das jeweilige Jugendamt eine Altersfestlegung vornimmt - denn sobald ein Flüchtling sagt, er sei minderjährig, fällt er in dessen Zuständigkeit. Dort wird sein Alter zunächst einmal von Mitarbeitern der Behörde eingeschätzt. Doch wie das genau geschieht, dafür gibt es zwar Empfehlungen der EU, aber keine eindeutigen Regeln.

"Die Jugendhilfe geht in den einzelnen Städten und Kommunen sehr unterschiedlich mit der Situation um", sagt Ulrike Schwarz vom Bundesverband UMF. "Während in einigen ein Vier- oder sogar Sechs-Augen-Prinzip gilt, wird das Alter der Flüchtlinge in anderen nur von einem einzigen Jugendhilfemitarbeiter eingeschätzt."

In den Städten München und Hamburg bewerten nach Auskunft der zuständigen Jugendämter jeweils zwei Jugendhilfe-Mitarbeiter das äußere Erscheinungsbild. Sie sichten, falls vorhanden, Dokumente und befragen den Flüchtling anhand eines standardisierten Leitfadens nach biografischen Daten, seiner Familie und seinem Fluchtweg. Auch Zeugen können befragt werden, sagt Maria Kurz-Adam, Leiterin des Münchner Stadtjugendamts. Auf der Grundlage dieser Informationen fällt das Jugendamt seine Entscheidung.

Doch auch hier gibt es Unterschiede. Während die erste Alterseinschätzung in München von zwei Sozialpädagogen vorgenommen wird, kann in Hamburg neben einem Sozialpädagogen auch eine "in der Sache kundige Verwaltungskraft" tätig werden. Andernorts werden zum Teil auch externe Experten hinzugezogen. Ist die Alterseinschätzung nach Ansicht des Flüchtlings nicht zutreffend, kann dieser Widerspruch einlegen. Oder er kann klagen. Dann wandert der Fall zum Familiengericht.

Streit um zusätzliche medizinische Verfahren

Wie aussagekräftig sind medizinische Untersuchungen? Sind die den Flüchtlingen zuzumuten? Der Streit um diese Fragen ist gerade dieses Jahr nach einem Artikel mehrerer Jugendärzte im Deutschen Ärzteblatt voll entbrannt.

Die Kinder- und Jugendärzte kritisieren die begrenzte Aussagekraft medizinischer Verfahren wie Handknochenröntgenbilder, Computertomographien im Schlüsselbeinbereich und zahnärztlicher Untersuchungen. Gerade für unterschiedliche Ethnien fehlten Vergleichsuntersuchungen. Ohnehin herrschten bei der Entwicklung von Menschen hohe Schwankungen, so dass bestimmte Merkmale kaum spezifische Ergebnisse liefern könnten.

Zudem führen sie an, dass es nicht zulässig sei, Flüchtlinge ohne medizinische Notwendigkeit einer Strahlenbelastung auszusetzen. Die Ärzte verweisen auch auf Beschlüsse des Deutschen Ärztetags und der zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer, wonach Röntgen ohne medizinische Indikation mit dem ärztlichen Berufsethos "grundsätzlich nicht vereinbar" sei.

Eine Gruppe von Rechtsmedizinern um die Arbeitsgemeinschaft für forensische Altersdiagnostik (Agfad) sieht sich allerdings durch die Darstellung der Jugendärzte zu Unrecht diffamiert. In Leserbriefen betonen sie, dass ein Arzt durchaus die Verpflichtung habe, mit seinem Sachverstand "der Allgemeinheit zu dienen". Sie verteidigen die Aussagekraft ihrer Verfahren und kritisieren die gesprächsbasierte Alterseinschätzung. Diese sei "aus wissenschaftlicher Sicht abzulehnen, da hierfür valide Referenzstudien" fehlten.

Die Praxis sieht unterschiedlich aus: In Hamburg schickt der Kinder- und Jugendnotdienst, der die erste Alterseinschätzung vornimmt, Flüchtlinge zum Röntgen des Handwurzelknochens ins Uniklinikum Eppendorf. Dies erscheine als die bessere Lösung, "bevor wir den Flüchtling ablehnen und an die zentrale Erstaufnahme weiterreichen", sagt Marcel Schweitzer, Pressesprecher der Hamburger Sozialbehörde.

Anders das Vorgehen in München: Das Jugendamt selbst ordnet hier keine medizinischen Untersuchungen an, die über die Gespräche hinausgehen, sagt Maria Kurz-Adam, Leiterin des Stadtjugendamts. "Wir halten das für rechtswidrig", sagt sie. Zudem sei "die pädagogische Begutachtung von der Einschätzung her genauso gut oder schlecht wie die medizinische".

So sieht es auch der Bundesfachverband UMF. Die medizinischen Verfahren suggerierten eine wissenschaftliche Exaktheit, die nicht zutreffe, sagt Ulrike Schwarz. Denn auch hier seien nach der Festsetzung Schwankungen von zwei Jahren mehr oder weniger möglich.

All das wäre vielleicht auch gar nicht so entscheidend, wenn ein weiterer, von der EU festgelegter Grundsatz tatsächlich immer Anwendung fände: dass nämlich im Zweifel das niedrigste Alter anzunehmen ist (hier die EU-Richtlinien zur Altersbestimmung auf Englisch). Denn egal, ob psychosoziale oder medizinische Einschätzung - ein gewisser Spielraum bleibt immer.

Ein schwieriges Beispiel aus Bayern

Der Münchner Anwalt für Ausländerrecht, Hubert Heinhold, schildert den Fall eines jungen Somaliers, den er gerade vertritt. Der sei vom Jugendamt als volljährig eingeschätzt und daher zunächst in die Gemeinschaftsunterkunft in der Bayernkaserne in München gebracht worden. Zwar habe er gegen die Entscheidung Widerspruch eingelegt, doch so ein Verfahren könne dauern.

Und obwohl der Rechtsstreit um die Altersschätzung des Somaliers ja noch laufe, sei dieser inzwischen in eine Unterkunft irgendwo in Niederbayern gebracht worden. "Dort vergammelt er nun ganz weit weg, in einem Gasthof, bekommt Post, die er wegen der fremden Sprache nicht lesen kann und weiß nicht, was zu tun ist", fasst Heinhold die desolate Lage des jungen Mannes zusammen. Zurzeit vertritt der Anwalt, der auch im Förderverein des Bayerischen Flüchtlingsrats aktiv ist, ungefähr 20 Jugendliche im Streit um die Altersfeststellung.

“Der Zaun”

Wie fühlt sich die "Festung Europa" von außen an? Wie leben Flüchtlinge vor den Grenzen? Welche Wege nehmen sie, wie reagieren Grenzpolizisten und Beamten darauf? Zwei Journalisten wollten wissen, was sich entlang der europäischen Außengrenzen abspielt. Bulgarien, Griechenland, Türkei, Italien, Tunesien und Marokko: Drei Monate lang haben sie nichts anderes gemacht, als mit den Menschen zu reden und ihre Geschichten zu notieren, zu fotografieren und zu filmen. Was sie dabei erlebten und herausfanden, erzählen sie in der Multimedia-Story "Der Zaun".

Weiter Geschichten und Informationen auf einer Themenseite zu Europas Flüchtlingsdrama bei Süddeutsche.de.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: