Özdemir:"Wir sind ein gesellschaftliches Entwicklungsland"

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Der neu gewählte Grünen-Chef über die Herausforderungen als Parteichef mit türkischen Wurzeln und die Wahlschlappe von Fritz Kuhn.

D. Brössler und T. Denkler

sueddeutsche.de: Herr Özdemir, die sorglosen Zeiten als Parteivorsitzender haben gerade einmal vier Stunden gedauert. Kaum dass sie gewählt sind, verwehrt der Parteitag dem Fraktionschef Fritz Kuhn einen Platz im Parteirat. Sind Sie enttäuscht?

Der neu gewählte Grünen-Parteichef Cem Özdemir mit Claudia Roth (Foto: Foto: dpa)

Cem Özdemir: Nein. Das war ein erfolgreicher Parteitag. Claudia Roth und ich haben für grüne Verhältnisse ja geradezu Traumergebnisse bekommen. Das ist ein Signal der Geschlossenheit und Stärke, das uns die Arbeit im Bundesvorstand erleichtern wird. Die Nicht-Wahl von Fritz Kuhn war nicht schön, das bedauere ich. Aber das heißt ja nicht, dass Fritz Kuhn mit seiner Erfahrung als Wahlkämpfer und seinem Sachverstand in den kommenden Wahlkämpfen nicht eine wichtige Rolle spielen wird.

sueddeutsche.de: Ist das so einfach? Der Parteitag hat kurzerhand Ihren Fraktionschef demontiert.

Özdemir: So ist bei uns gelebte innerparteiliche Demokratie: Wer sich zur Wahl stellt, kann verlieren. Wer wäre ich, wenn ich nicht sagen würde, dass mir das nicht ganz unbekannt ist. Da kommen auch wieder andere Tage.

sueddeutsche.de: Der Vorgang dürfte Kuhn ziemlich geschwächt haben?

Özdemir: Fritz Kuhn hat die Unterstützung seiner Fraktion. Er gehört zu den Spitzenleuten unserer Partei. Entscheidend ist: Dieser Parteitag ist ein Parteitag der Entschlossenheit. Die Leute sind flügelübergreifend gewählt worden.

sueddeutsche.de: Warum ist Kuhn gescheitert?

Özdemir: Das muss im Einzelnen noch analysiert werden.

sueddeutsche.de: Herr Özdemir, Sie sind der erste Bundesvorsitzende einer deutschen Partei mit einem Migrationshintergrund. Ihre Eltern stammen aus der Türkei. Nerven Sie nicht inzwischen Fragen nach Ihrer Herkunft?

Özdemir: Dass wir hier jetzt darüber reden, zeigt, wie viel Arbeit noch vor uns liegt, bis es eines Tages keine Rolle mehr spielt, ob jemand Vorfahren aus Kasachstan, aus Anatolien hat oder ob sie schon in der Schlacht im Teutoburger Wald gegen die Römer gekämpft haben. So etwas dauert eben. Vor allem in Ländern, die wenig Erfahrung haben mit Vielfalt. Deutschland ist in Sachen offene Gesellschaft noch ein Entwicklungsland.

sueddeutsche.de: Wie lange wird es noch dauern? Nur so ungefähr.

Özdemir: Als ich 1994 gewählt wurde, war ich der erste im Bundestag aus einer Gastarbeiterfamilie. Heute gibt es solche Leute auch in anderen Parteien, auch in der CDU. Ich bin mir sicher, dass wir bald auch eine Aishe, eine Selina oder einen Giovanni als Minister in Deutschland haben.

sueddeutsche.de: Haben Sie nicht Sorge, dass die Erwartungen an Sie gerade wegen ihres biographischen Hintergrundes zu hoch sein könnten?

Özdemir: Ich bin mir meiner Aufgabe und der Verantwortung bewusst. Da sind viele Augen auf mich gerichtet. Das sehe ich jetzt schon an den Reaktionen, die nicht nur aus Deutschland kommen. Ich weiß, dass ich für viele Leute spreche, die hier keine Stimme haben und bisher kaum Gehör hatten in der Politik.

sueddeutsche.de: Sie haben einen nicht überkomplexen Wahlkampf eingefordert, wollen mehr harte Kante. Ist nicht schon der Parteitag das Gegenteil davon? Hier wurde etwa die Energiepolitik bis zum letzten weich debattiert.

Özdemir: Ein Parteitag ist kein Streitgespräch im Fernsehen. Hier sitzen Grüne aus den Kommunen, aus den Ländern mit viel Sachverstand und ungeheurer Detailkenntnis. Problematisch wäre, wenn die nicht genauer hinschauen und präzise Beschlüsse fassen. Mein Job als Bundesvorsitzender ist es, Ihnen und Ihren Lesern zu erklären, was wir hier beschlossen haben. Das ist dann recht einfach: Wir bekämpfen alle, die am Atomausstieg rütteln. Wir setzen uns dafür ein, dass keine neuen Kohlekraftwerke gebaut werden. Wir kämpfen für eine wirkliche Wende in der Energiepolitik, für die Umsetzung der drei "E": Energiesparen, Energieeffizienz und den Ausbau erneuerbarer Energien.

sueddeutsche.de: Sie haben sich in Ihrer Bewerbungsrede besonders an der FDP abgearbeitet. Ist das jetzt Ihr Hauptgegner?

Özdemir: Ich sehe nicht ein, warum die FDP als angebliche liberale Bürgerrechtspartei durch die Lande ziehen kann. Der FDP-Innenminister von Nordrhein-Westfalen hat für seine Online-Durchsuchung eine Watschn vom Bundesverfassungsgericht bekommen. Aber nehmen Sie auch deren Wirtschaft- und Finanzpolitik. Wenn wir auf die gehört hätten, wenn die gar regiert hätten, dann wäre die Krise heute wesentlich dramatischer. Im FDP-Programm kann man nachlesen, dass sie den Finanzsektor gerne noch viel mehr dereguliert hätten. Mit allen katastrophalen Folgen, die wir heute woanders beobachten können. Die kommen viel zu gut weg.

sueddeutsche.de: Wenn Sie nach der Bundestagswahl regieren wollen, dann werden Sie um die FDP nicht herumkommen.

Özdemir: Wenn wir regieren, dann geht es vor allem um unser Programm, um unsere Inhalte. Da werden wir sehr genau hinschauen, wo Schnittmengen sein können. Eines ist klar: Wir richten unsere Politik nicht an den anderen aus. Wir kämpfen für Grün - und dafür haben wir uns an diesem Wochenende sehr gut aufgestellt.

sueddeutsche.de: Ihre Angriffe auf CDU, SPD und Linkspartei lassen vermuten, dass die Grünen von Feinden umzingelt sind. Mit wem wollen Sie da noch koalieren?

Özdemir:Es gibt keinen Schmusekurs in der Opposition. Wir werden eine harte Oppositionspolitik fahren. Mir kommt immer noch die Manndeckung zu kurz. Das gilt insbesondere für Umweltminister Gabriel, der sich ja immer noch für den obersten Klimaschützer der Bundesregierung hält.

sueddeutsche.de: Was werfen Sie ihm vor?

Özdemir: Er ist im Bund mit der Kanzlerin derjenige, der in Europa ganz massiv auf die Bremse drückt, wenn es darum geht den Kohlendioxidausstoß von Autos zu begrenzen. Und die von ihm unterstützte KfZ-Steuerbefreiung begünstigt vor allem die großen Spritfresser. Wenn er es denn so ernst meint mit dem Klimaschutz, warum führen wir in Deutschland nicht etwas ein, was sofort helfen würde, nämlich ein Tempolimit. Das hat seine eigene Partei längst beschlossen.

sueddeutsche.de: Wenn Sie fehlende Manndeckung kritisieren, trifft das nicht zuletzt die Bundestagsfraktion. Teilt vielleicht der Parteitag die Kritik am Erscheinungsbild der Fraktion? Das würde die Wahlniederlage von Fritz Kuhn ja erklären.

Özdemir: Die Fraktion macht ihre Arbeit sehr gut. Wir haben einige Schwierigkeiten gehabt in der Umstellung von Regierungs- auf Oppositionsarbeit nach dem Ende von Rot-Grün 2005. Seit diesem Jahr sind wir auf Betriebstemperatur und der Parteitag war ein starkes Signal. Das gibt uns noch einmal richtig Rückenwind.

Die Grünen haben am Samstag auf ihrem Bundesparteitag in Erfurt den türkischstämmmigen EU-Abgeordneten Cem Özdemir zum Nachfolger ihres bisherigen Vorsitzenden, Reinhard Bütikofer, gewählt. Er ist damit der erste Parteichef in Deutschland mit Migrationshintergrund.

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