Süddeutsche Zeitung

EU-Landwirtschaft:Özdemir verteidigt die Ökowende

Gefährden mehr Klimaschutz und Tierwohl Europas Ernährungssicherheit? In der EU steht eine Grundsatzdebatte an. Aber auch eine unerwünschte Folge der Ukraine-Solidarität beschäftigt die Agrarminister.

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Nein, sagte Cem Özdemir, diesen Brief habe er nicht unterschrieben. Sein österreichischer Kollege Norbert Totschnig hatte vor dem Treffen des EU-Agrarrats am Montag 15 Kolleginnen und Kollegen animiert, gemeinsam gegen die vermeintliche Missachtung zu protestieren, die ihnen in der Brüsseler Gesetzgebung zuteilwerde. Wenn es in der EU um Landwirtschaft gehe, müsse die Landwirtschaft auch gefragt werden, lautete ihre Botschaft. Dahinter steht der Grundkonflikt, der die Agrarpolitik derzeit prägt: In einer großen Zahl der 27 Mitgliedstaaten herrscht offensichtlich die Meinung vor, die Umwelt- und Klimaschutzpolitik der EU gefährde die Ernährungssicherheit in Europa.

Cem Özdemir warnte davor, neuerlich einen Konflikt zwischen Landwirtschaft und Umwelt zu schüren. Er würde, sagte er am Montag vor Beginn der Sitzung, den Österreichern gern erklären, wie er und die Umweltministerin Steffi Lemke Seite an Seite arbeiten. Als Beispiel nannte Özdemir die Reform der Industrie-Emissionsrichtlinie, ein großes Thema für die Landwirte.

Das größte Streitthema ist die neue Pestizidverordnung

Die EU-Kommission hat vorgeschlagen, Betriebe ab 150 "Großvieheinheiten" (Tiere mit mindestens 500 Kilo) in die Richtlinie aufzunehmen, was bedeuten würde: Sie unterliegen strengeren Emissionsregeln. Das sei, wegen der hohen Kosten für den Umbau von Ställen, das Ende der bäuerlichen Tierhaltung, protestieren die Interessenverbände. Özdemir schlägt nun in Abstimmung mit der im Gesetzgebungsverfahren zuständigen Kollegin Lemke vor, erst Betriebe ab 300 Großvieheinheiten in die Richtlinie aufzunehmen.

Özdemir hat generell die Sorge, wegen der im nächsten Jahr anstehenden Europawahlen würden Themen, die bei Landwirten unpopulär sind, liegen bleiben. Er nannte den Bereich Tierwohl. Die Bundesregierung verschärfe die Regeln für Tiertransporte, zum Beispiel die maximale Transportzeit - aber das führe zu nichts, wenn es in Europa keine einheitlichen Regeln gibt.

Größte Baustelle in der Agrarpolitik ist jedoch die neue Pestizidverordnung. Sie soll den Einsatz von chemischen Pflanzenschutzmitteln bis 2030 um die Hälfe reduzieren. Der erste Entwurf ging selbst Özdemir zu weit, was die Regeln in Landschaftsschutzgebieten betrifft. Sonderkulturen wie Obstbau und Weinbau müssten weiterhin eine Zukunft haben, sagt er. Mit großer Mehrheit forderte der Rat die Kommission im Herbst auf, erst einmal eine Folgenabschätzung vorzulegen: In welchem Maß sinkt die landwirtschaftliche Produktion, wenn weniger Pestizide verwendet werden? Viele in Brüssel bezweifeln, dass das Gesetz bis zum Ende der Legislaturperiode verabschiedet wird.

Günstiges Getreide aus der Ukraine landet auf EU-Märkten

Nur wenn der Pestizideinsatz drastisch sinkt, kann die Landwirtschaft die von der EU vorgegebenen Klimaziele erreichen. Am "Grünen Deal" dürfe es keine Abstriche geben, sagt Özdemir. Er hat im vergangenen Jahr aber selbst erlebt, wie der Krieg in der Ukraine die Prioritäten verändert. Nach anfänglichem Zögern stimmte er zu, Ökoregeln auszusetzen. Begründung: Europa dürfe seine Produktion nicht verringern, während die Ukraine wegen des Krieges als weltweiter Lieferant von Getreide ausfällt. In einer kuriosen Wendung der europäischen Ukraine-Hilfe macht nun günstiges Getreide aus der Ukraine aber offenbar der Landwirtschaft in der EU Konkurrenz.

Es gelangten deutlich mehr ukrainische Futter- und Lebensmittel nach Bulgarien, Tschechien, Ungarn, Polen, Rumänien und in die Slowakei, das geht aus einem Papier dieser EU-Länder hervor. Ihre eigenen Erzeuger könnten bald "in ernste Schwierigkeiten geraten", heißt es in dem Papier, aus dem die Deutsche Presse-Agentur zitiert. Die EU hatte, um der Ukraine trotz der russischen Blockade den Export zu ermöglichen, "Solidarity Lanes" geschaffen - erleichterte Transportwege durch die EU. Nun stellt sich heraus, dass Teile des ukrainischen Getreides nicht auf dem Weltmarkt landen, sondern europäische Produkte von den nationalen Märkten verdrängen. Auch dieses Problem diskutierten die Ministerinnen und Minister am Montag in Brüssel.

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