ÖVP:Elastisch bis zur Selbstverleugnung

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„Jetzt ist die Situation anders“: Christian Stocker, bisher Generalsekretär der ÖVP, will seine Partei auf ein Regierungsbündnis mit der FPÖ einschwören. (Foto: Heinz-Peter Bader/dpa)

Noch vor Kurzem nannte Christian Stocker den FPÖ-Vormann Herbert Kickl ein „Sicherheitsrisiko“, das Österreich vermeiden müsse. Nun findet der designierte ÖVP-Chef nichts dabei, seine Partei ausgerechnet in eine Koalition mit dem Vielgeschmähten zu führen.

Verena Mayer, Wien

In den vergangenen Tagen konnte man in den österreichischen Medien einen interessanten Austriazismus lernen. Er lautet „situationselastisch“ und bedeutet, dass man sich, je nach politischer Lage, flexibel bewegt. Auch wenn das heißt, die eigenen Überzeugungen innerhalb kürzester Zeit auf den Kopf zu stellen. Die Person, die in Österreich wahrscheinlich die größte Situationselastizität bewiesen hat, ist Christian Stocker. Der designierte ÖVP-Chef, der seine Partei in eine Koalition mit der FPÖ unter deren Vorsitzendem Herbert Kickl führen soll. Und von dem es in Wien derzeit heißt, dass er auch darüber hinaus eine hohe politische Funktion einnehmen könnte.

Stocker war bis zum Wochenende Generalsekretär der ÖVP und hatte damit auch den Kurs bestimmt, mit dem die konservative Partei den Wahlkampf im September bestritt. Der war im Wesentlichen darauf ausgerichtet, dass man die ÖVP wählen müsse, um eine Regierung unter Kickls FPÖ zu vermeiden. Diese Botschaft verbreitete Stocker nicht nur unermüdlich im Wahlkampf, bis hin zu einem skurrilen Gimmick, an das kürzlich der Presse-Autor Philipp Aichinger auf X erinnerte – eine Packung Taschentücher mit der schwarzen Aufschrift: „Sie werden davon viele brauchen. Wenn Kickl Kanzler wird.“ Stocker gehörte als Abgeordneter des österreichischen Parlaments auch zu denen, die Herbert Kickl im Plenum scharf kritisierten.

Er nannte ihn „rechtsextrem“, warf ihm vor, den Staat umbauen zu wollen, was „kein guter Plan für Österreich“ sei, rief ihm zu: „Herr Kickl, es will Sie niemand in diesem Haus. Auch in dieser Republik braucht Sie keiner.“ Und immer wieder beschrieb er Kickls Nähe zu Russland und dessen mögliche Berührungspunkte mit einer Spionageaffäre. Als Kickl nämlich 2017 bis 2019 unter dem ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz Innenminister gewesen war, sollen aus dem ihm unterstellten Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung Informationen nach Russland übermittelt worden sein, eine Affäre, die die österreichische Justiz bis heute beschäftigt und die dazu geführt hatte, dass ausländische Partnerdienste das Vertrauen in die Österreicher verloren und eine Zeit lang von Informationsflüssen abschnitten. Stocker nannte Kickl deswegen ein „Sicherheitsrisiko“.

Stocker soll den Wechsel von der Kanzlerpartei zum Juniorpartner vollziehen

Dieser Christian Stocker also gab am Wochenende, umringt von Getreuen und vor einer Österreich- und einer EU-Fahne stehend, eine Pressekonferenz und erklärte, warum er das nun vollkommen anders sieht. Es gehe darum, keine Zeit mehr mit Wahlen oder Wahlkämpfen zu verschwenden, das Land brauche „eine stabile Regierung“. Auf die Nachfrage, wie er so schnell zu diesem Umdenken gekommen sei, meinte er: „Jetzt ist die Situation anders.“

Stocker, 64, von Beruf Rechtsanwalt, ist ein altgedienter ÖVP-Mann. Er kommt aus Niederösterreich, das für die ÖVP so etwas ist wie Bayern für die CSU: konservatives Heartland. Stocker, der aus einer Familie von Politikern kommt, war erst in der Kommunalpolitik tätig, dann wechselte er in die Bundespolitik, wo er seit 2022 ÖVP-Generalsekretär ist. Diese Aufgabe erfüllte er mit der für das Stellenprofil erforderlichen Angriffslust und der Bereitschaft, in Krisen den Kopf hinzuhalten. Wiener Medien haben noch herausgefunden, dass er dem Hobby des Fliegenfischens nachgeht.

Als er am Wochenende das Amt des geschäftsführenden Parteiobmanns übernahm, war die Zahl der Konkurrenten um den Job überschaubar. Denn Stocker muss nicht nur das Kunststück hinbekommen, die ÖVP, die bislang eine Koalition mit Kickl ausgeschlossen hatte, genau darauf einzuschwören. Er muss auch deren Rollenwechsel von der Kanzlerpartei zur kleineren Partnerin eines extrem rechten Kanzlers vollziehen.

Das wird nicht ganz einfach werden. ÖVP und FPÖ haben zwar einige Gemeinsamkeiten, was Fragen der Migrations- oder der Wirtschaftspolitik betrifft. Aber sie liegen bei der Außen- und Sicherheitspolitik diametral auseinander. Herbert Kickl hält nicht viel von den europäischen Institutionen und noch weniger von der Nato, mit der die ÖVP gerne in Projekten, die mit der österreichischen Neutralität vereinbar sind, enger zusammenarbeiten würde. Kickl möchte eine „Festung Österreich“, ein Land, das sich vor Zuwanderung und Vorgaben aus Brüssel abschottet. Die ÖVP ist eine Europa zugewandte Partei, sie war es, die Anfang der Neunzigerjahre den Beitritt des Landes zur EU vorantrieb. Und es ist noch nicht allzu lange her, da war die ÖVP von ihrem Selbstverständnis her auch christlich-human. Dass die ÖVP nun in Koalitionsverhandlungen mit Herbert Kickl eintreten möchte, wirft auch die Frage auf, wie viel noch von dieser Volkspartei übrig ist, die seit dem Zweiten Weltkrieg die politische Landschaft Österreichs mitbestimmt hat.

Dementsprechend groß sind die tektonischen Verschiebungen auch innerhalb der Partei. Zwar gibt es einen starken Flügel, der mit der FPÖ zusammenarbeiten will, unter anderem mehrere Landeshauptleute, die in ihren Bundesländern bereits mit der FPÖ koalieren, in der Steiermark passiert das sogar erstmals unter Führung der FPÖ. Aber es gibt auch gar nicht so wenige, die diesen Kurs nicht mittragen wollen. ÖVP-Integrationsministerin Susanne Raab kündigte am Dienstag an, sie werde sich aus der Politik zurückziehen. Außenminister Alexander Schallenberg gab bekannt, keiner Regierung unter Herbert Kickl angehören zu wollen. Und der frühere EU-Kommissar Franz Fischler sprach im Standard von einer Zeitenwende, allerdings nicht im guten Sinn: Er glaubt, dass mit der geplanten „reaktionären“ Regierung das Zeitalter einer „Dritten Republik“ anbrechen könnte. Einer Demokratie, die diesen Namen nicht mehr verdient – und in der  Wörtern wie Situationselastizität noch eine ganz andere Bedeutung zukommen könnte.

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