Präsidentin statt nur Kommissar - das klingt gut. Doch dass nun eine Deutsche zwar den Spitzenposten der EU-Kommission besetzt, es dafür aber keinen Kommissar gibt, bereitet manchen deutschen Lobbyisten Verdruss: Sie trauern Günther Oettinger nach. Der schwäbische CDU-Politiker war fast zehn Jahre lang Kommissar, bis dann im Dezember die neue Kommission unter Ursula von der Leyen ihr Amt antrat. Oettinger, der nacheinander für Energie, Digitales und Haushalt zuständig war, sei "ein Knotenpunkt für die deutsche Community in Brüssel" gewesen, lobt ein Interessensvertreter. Ein anderer preist ihn als "wichtigen Ansprechpartner, der auch sehr engagiert Empfänge besucht" habe.
Von der Leyen hingegen hat als Präsidentin schlicht nicht so viel Zeit, Empfänge abzuklappern und Lobbyisten zu treffen. Als Chefin der mächtigen Behörde muss die CDU-Politikerin zudem stärker Distanz wahren; sie darf nicht den Eindruck erwecken, deutsche Interessen oder bestimmte Lobbygruppen zu bevorzugen.
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Offiziell sollen die 18 Kommissare, sieben Vizepräsidenten, die Präsidentin und der Hohe Vertreter ohnehin keine nationalen Interessen verteidigen, sondern für Europas Gemeinwohl streiten. Sie dürfen keine Anweisungen ihrer Heimatregierung annehmen, die sie für den Posten vorgeschlagen hat. In der Praxis wird jedoch ein deutscher Kommissar die Befindlichkeiten zu Hause am besten verstehen - und kann deshalb Ratschläge und Warnungen einspeisen. Für viele nationale Politiker und Verbände ist "unser Mann oder unsere Frau in Brüssel" wiederum der natürliche Ansprechpartner bei der Kommission.
Und Oettinger war sehr gerne Ansprechpartner. Der Politiker, der keinen Hehl aus seinen industriefreundlichen Positionen machte, besuchte mit viel Ausdauer die diversen Empfänge, die es jeden Abend in Brüssel gibt. Wollte ihn ein Konzernchef oder eine Besuchergruppe aus dem Schwabenland treffen, richtete er das oft ein. Am Wochenende reiste der frühere Ministerpräsident dann häufig durch Deutschland, hielt Reden und beantwortete Fragen.
Auch Martin Selmayr ist seinen Job los
Mit dem Antritt von der Leyens verlor noch ein anderer Deutscher seinen wichtigen Posten: Martin Selmayr, der erst das Kabinett von Präsident Jean-Claude Juncker leitete und am Ende als Generalsekretär die Arbeit der Kommission steuerte. Eine deutsche Präsidentin kann keinen deutschen Generalsekretär haben; zudem hatte sich der machtbewusste Selmayr viele Feinde gemacht. Darum musste er gehen und führt nun die Vertretung der Europäischen Union in Wien.
Allerdings sollte die Bedeutung hochrangiger Landsmänner für Lobbyisten auch nicht überschätzt werden. Interessensvertreter wenden sich zunächst meist an den vom Thema her zuständigen Kommissar, dessen Kabinett oder die Generaldirektion, also die Fachabteilung. Oettinger war aber "der deutsche Libero", der stets bereite Ausputzer, wie es ein Verbandsmitarbeiter formuliert.
Dieser Libero bietet jetzt seine Kontakte und sein politisches Geschick auf Honorarbasis an: Oettinger hat eine Beratungsfirma gegründet. Einer seiner ersten Klienten ist ausgerechnet der umstrittene ungarische Premier Viktor Orbán. Der hat den 66-Jährigen zum Co-Vorsitzenden eines Wissenschaftsrats berufen.