Wiener Bürgermeister zu sein ist ein beneidenswerter Job. Man regiert eine Zwei-Millionen-Metropole, die seit Jahren als die lebenswerteste Stadt der Welt gilt. Dies hat Wien dem britischen Magazin Economist zufolge, das diesen Titel jedes Jahr vergibt, der guten Infrastruktur und seinem Gesundheits- und Bildungssystem zu verdanken. Der soziale Wohnungsbau, der weltweit als Vorbild gilt, ist da noch gar nicht mitgerechnet. Dazu kommt, dass man sich als Wiener Bürgermeister sicher sein kann, wiedergewählt zu werden – die Stadt wird seit Kriegsende durchgehend von den Sozialdemokraten regiert.
Alles, was ein Wiener Bürgermeister im Wahlkampf tun muss, ist, die berühmte Wiener Lebensqualität und die Errungenschaften der Sozialdemokratie zu preisen. Der aktuelle Bürgermeister Michael Ludwig kann zudem darauf vertrauen, dass die Konkurrenz nicht besonders groß ist, die am Sonntag bei der Landtags- und Gemeinderatswahl gegen ihn antritt. Die Grünen und die Neos, die Parteien für das linke und liberale Bürgertum, liegen in den Umfragen bei zwölf beziehungsweise zehn Prozent und sind für Ludwig höchstens Koalitionspartner-Material.
Die konservative ÖVP, die in Wien immer schwach war, führte in diesem Jahr einen besonders schwachen Wahlkampf. Der setzte mit Slogans gegen „Messergewalt“ und „No-Go-Areas“ auf dumpfe Law-and-Order-Rhetorik und war mit freiem Auge kaum von den Positionen der extrem rechten FPÖ zu unterscheiden. Diese wiederum kann auf ein furioses Comeback hoffen. Nachdem die Wiener FPÖ nach der Ibiza- und einer parteiinternen Spesenaffäre 2020 abgesackt war, sehen Umfragen sie nun bei 22 Prozent – und auf Platz zwei hinter Michael Ludwig.
Das ist für das rote Wien eine bemerkenswerte Entwicklung. Besonders erfolgreich ist die FPÖ nämlich in den sogenannten Arbeiterbezirken, dort, wo es viele Sozialbauten gibt. Die Wählerinnen und Wähler also, die immer von den Errungenschaften sozialdemokratischer Politik profitiert haben, wählen heute die FPÖ. Bürgermeister Ludwig machte allerdings nicht den Eindruck, als würde ihn das sehr aus der Ruhe bringen. Er absolvierte die klassischen Wahlkampftermine (Werksbesuch, Eröffnung eines neuen Gemeindebaus), lobte den sozialen Wohnungsbau, der „keine Selbstverständlichkeit“ sei, und machte, wenn er auf Probleme (Migration, Bildung, Verkehr) angesprochen wurde, das, was alle Landespolitiker machen: nämlich den Bund dafür verantwortlich.
Und noch etwas ist bemerkenswert. In der Stadt Wien, die auf ihre Vielfalt mindestens genauso stolz ist wie auf ihre Lebensqualität, dürfen 36 Prozent der Menschen im Wahlalter nicht wählen. Mehr als ein Drittel der Menschen, die in Wien leben und Steuern zahlen, oft seit Jahrzehnten, können an ihrem Lebensmittelpunkt nicht politisch mitbestimmen. Grund ist das äußerst restriktive österreichische Staatsbürgerschaftsrecht. Das kann zwar auch Michael Ludwig nicht ändern, weil es Sache des Bundes ist. Er hat sich allerdings auch nicht besonders in Zeug gelegt für diese Wienerinnen und Wiener. Manchmal kann man es sich als Wiener Bürgermeister auch zu einfach machen.
Diese Kolumne erscheint auch im Österreich-Newsletter, der die Berichterstattung der SZ zu Österreich bündelt. Gleich kostenlos anmelden.