Nach einer Wahl ist vor einer Regierungsbildung, heißt es derzeit in Österreich. Denn nachdem die Wahlen geschlagen sind (eigentlich ein martialischer Begriff für einen im Grundsatz friedlichen Vorgang), geht es nun darum, ob die Wahlsiegerin, die FPÖ, die nächste Koalition anführen – oder in der Opposition tagein, tagaus Zeter und Mordio schreien wird.
Während sich die Nebel lichten, gilt es also die kurze Atempause zu nutzen, die der Weltgeist Österreich bietet, und in die Vergangenheit und in die Zukunft zu schauen. Was kommt, was droht, was geht?
Ein nachdenklicher Freund schickte mir dieser Tage eine wunderbare kleine Glosse: „Ich bin kein Nostalgiker und kein Fortschrittsverweigerer. Aber ich ertappe mich hin und wieder bei dem Gedanken, dass früher doch manches besser war. Die Fußball-Übertragungen waren einfacher, die Parteienlandschaft war übersichtlicher, die Züge kamen pünktlich und zur Faschingsfeier konnte man noch als einbeiniger Pirat mit Augenklappe gehen.“
Er reiße sich dann zusammen und ermahne sich, dass die Rückschaubewertung nicht „als Rosinenpickerei betrieben werden“ dürfe, schreibt er. Und stellt fest, dass das „Zukunftsversprechen früher womöglich verklärt“ war, heute aber in seiner ganzen Brutalität des bevorstehenden Niedergangs von Umwelt und Umgangsformen vor uns stehe. Und dann fragt er sich, ob sich die junge Generation vielleicht zu sehr auf ein Weiter-so verlasse, anstatt vorsichtshalber ein neues Zukunftsnarrativ zu entwerfen.
Rückwärtsgewandte Menschen wünschen sich eine „plakative“ Geschichte
Das würde ich jetzt gern auch die FPÖ-Jugend fragen, die sich, angehängt an die Nostalgie der Vergangenheitsbeschönigung ihrer Partei-Oberen und ausgerüstet mit Nazi-Frisuren und Nazi-Jargon, eine Zukunft erträumt, die es nie mehr geben kann. Ob sie eine Antwort wissen, wissen wollen?
Ich habe die Atempause der Tage nach der Wahl aber nicht nur zum Gedankenaustausch mit diesem klugen Freund genutzt, sondern auch dies und das gelesen, zum Beispiel das vorletzte Buch der amerikanischen Pulitzer-Preisträgerin Anne Applebaum, die am 20. Oktober den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommt. In „Die Verlockung des Autoritären“ denkt sie über die „Zukunft der Nostalgie“ und über „restaurative Nostalgiker“ nach. Diese wollten „nicht über die Vergangenheit nachsinnen oder aus ihr lernen“, sondern „die verlorene Heimat“ wiederaufbauen.
Applebaum schreibt treffend, diese rückwärtsgewandten Menschen wünschten sich eine „plakative Geschichte“. Und sie wollten jetzt und hier in ihr leben. Es sei kein Wunder, so die Autorin und Journalistin weiter, dass diese restaurative Nostalgie oft mit Verschwörungstheorien und Lügen einhergehe. Dann heiße es, das Land sei nicht mehr groß, weil es angegriffen, sabotiert oder seiner Kraft und seiner Identität beraubt wurde – durch Zuwanderer, Ausländer, Eliten, die EU. Passt ganz gut auf Österreich, oder?
Ich denke, dass beide Analysen, die Rosinenpickerei der Rückschaubewertung und der Selbstbetrug der Nostalgiker, die Sache ziemlich gut beschreiben. Sie werden jetzt denken: Da hat die Verfasserin dieser Kolumne aber ziemlich viele Ideen und Gedanken von anderen, klügeren Menschen geklaut. Stimmt. Ich brauchte nach diesem Wahlergebnis eben auch mal eine Atempause.
Diese Kolumne erscheint auch im Österreich-Newsletter, der die Berichterstattung der SZ zu Österreich bündelt. Gleich kostenlos anmelden.