Österreich:SPÖ und ÖVP überbieten sich im Tabubrechen

Österreich: Erkennbarer Hang zur Selbstinszenierung: Österreichs Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) bei seiner Neujahrsrede am Mittwochabend.

Erkennbarer Hang zur Selbstinszenierung: Österreichs Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) bei seiner Neujahrsrede am Mittwochabend.

(Foto: AFP)

Österreichs Kanzler Kern zieht zum Auftakt des Jahres eine große Show ab - und deutet einen harten Kurs in der Asylpolitik an.

Von Cathrin Kahlweit, Wien

Weil heutzutage Twittermeldungen mit 140 Zeichen mehr Aufmerksamkeit erregen als lange Pressemitteilungen, verschickte die ÖVP von ihrer Neujahrsklausur am Donnerstag gleich Dutzende Tweets: "Nachhaltigkeit: Green Technology schafft unzählige Arbeitsplätze" war da zu lesen. Oder auch: "Die Obergrenze muss halbiert werden". Dahinter steckt der neueste Vorschlag der Law-and-Order-Politiker in der Volkspartei, die Obergrenze für Asylbewerber in Österreich von maximal 37 500 Anträgen, die 2016 knapp verfehlt worden war, in diesem Jahr auf nurmehr 17 000 zu halbieren.

Das war immerhin ein kleiner Aufreger, nachdem man zuvor, zur allgemeinen Enttäuschung eines erwartungsfrohen Publikums, einen vermeintlich großen Aufreger - fürs Erste zumindest - abgeräumt hatte: den herbeigeredeten, herbeigeschriebenen und mithin lange erwarteten Stabwechsel an der Parteispitze von Vizekanzler Reinhold Mitterlehner zum populären Außenminister Sebastian Kurz. Dazu werde es vorerst nicht kommen, hieß es trocken. Man wolle sich aufs Inhaltliche konzentrieren.

Nun denn: Mehr Arbeitsplätze, weniger Flüchtlinge - mit just jenen Themen, mit denen auch der Koalitionspartner Schlagzeilen macht, versuchten die Konservativen den lauten Nachhall zu übertönen, der noch vom Vortag in der Luft hing: Kanzler Christian Kern (SPÖ) hatte am Mittwoch mit großem Aplomb und einer fast zweistündigen programmatischen Rede vor 1500 Menschen in Wels seinen Auftakt für das politische Jahr gesetzt.

Und dabei nicht nur insgesamt 350 000 zusätzliche Arbeitsplätze in den nächsten Jahren durch Reformen wie durch "normales" Arbeitsplatzwachstum versprochen, sondern auch angekündigt, den Zuzug von Flüchtlingen begrenzen zu wollen, solange die aktuellen Integrationsprobleme nicht gelöst seien.

Geht es nach dem medialen Echo und der Breite der Vorschläge, so lag Sozialdemokrat Kern um Längen vor der Koalitionskonkurrenz von der ÖVP. Für den einstigen Bahnmanager Kern, der im vergangenen Frühjahr das Amt von seinem unpopulären Vorgänger Werner Faymann übernommen hatte, war es die erste ganz große Rede gewesen, eine Ruck-Rede sozusagen, über zwei Stunden weitgehend frei gehalten und von Elvis-Presley-Musik befeuert. In Wien hieß es, der durchaus der Selbstinszenierung zuneigende Kanzler habe sich auch deshalb zuletzt auffällig wenig zu Wort gemeldet, weil er seinem "Plan A" (A für Austria), den er in der FPÖ-regierten Stadt Wels vorstellte, die größtmögliche Aufmerksamkeit verschaffen wollte.

Das ist gelungen. Kern kennt, wie aus früheren Äußerungen zu entnehmen ist, den so häufig zitierten wie falschen Satz, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen, und er sieht das offenbar anders: Eine visionäre Rede wollte er halten, die über den Tag und das übernächste Wahljahr hinausreicht. Daher wurde Plan A auch in einer 146-seitigen Broschüre verteilt, damit etwas zum Nachlesen bleibt von seinen neuen Ideen, großen und kleinen Versprechen - und Tabubrüchen.

Am Tag nach der großen Show ist schnell alles beim Alten

So zeigt sich der Wiener offen für Aspekte des Mehrheitswahlrechts und schlägt unter anderem vor, dass der Auftrag zur Regierungsbildung automatisch an die stärkste Partei gehen solle. Bisher kann das der Präsident entscheiden. Kern will sich für einen Mindestlohn von 1500 Euro einsetzen, was Wirtschaft und ÖVP viel zu hoch finden. Jobs in Österreich sollen nur dann an Bewerber aus europäischen Niedriglohnländern vergeben werden, wenn sich kein Inländer für diese Stelle findet. Kritiker bezeichnen das als eine Abkehr von der Personenfreizügigkeit und Rückkehr in die Siebzigerjahre.

Um die Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen auszugleichen, soll es ein Lohntransparenzgesetz geben, außerdem eine 40-prozentige Frauenquote in Aufsichtsräten. Ein weiterer Tabubruch, der vor allem in linken Parteikreisen auf Gegenwehr stößt, ist das Bekenntnis zu "Leistungsselektion" und Zugangsbeschränkungen für populäre Studiengänge; bisher gibt es nur in einigen wenigen Studienfächern in Österreich Aufnahmequoten.

Seine Äußerungen zur politisch heiklen Flüchtlingsfrage, die Kern bisher lieber dem Innen- respektive Außenminister des ÖVP-Koalitionspartners überlassen hatte, deuten darauf hin, dass die SPÖ weiter auf den Kurs einer restriktiven Asylpolitik einschwenken will. Jeder Flüchtling müsse ein Integrationsjahr bestreiten, in dem Deutschkurs und Arbeitsschulung verpflichtend seien, so der Kanzler. Gegen Islamisten müsse hart vorgegangen werden.

Am Tag nach der großen Kern-Show in der Welser Arena war dann schnell alles beim Alten: Vorschläge wurden abgewogen, zurückgewiesen. Bei der Wahlrechtsreform zeigte sich die ÖVP aufgeschlossen, in der Obergrenzenfrage will sie mehr Zugeständnisse. Irgendwie soll die Koalition ja bis 2018 halten.

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