Jeden Sommer zur Festspielzeit wird das kleine Salzburg zur strahlenden Kulturhauptstadt ... nein, nicht nur Europas, sondern der Welt. Ich kann und muss das so superlativisch sagen, weil noch kein Festival hienieden den Beweis erbracht hat, dass es da mithalten könnte. Die Salzburger Kombination aus Kunst, Kulisse und Kulinarik ist einzigartig. Dazu diese spezielle Melange aus Mozart, Marillen und Mehlspeisen als österreichische Mehrwertgarantie. Wo gibt es das sonst? Es ist dem Ästheten Max Reinhardt zu verdanken, das Potenzial des Ortes für seine Idee von einem „großen Welttheater“ erkannt zu haben. Seine Grundmaxime für die von ihm gegründeten Festspiele gilt noch immer: Die ganze Stadt ist Bühne. Und das Schöne ist: Jeder Mann, jede Frau spielt mit, nicht nur der Jedermann.
Gut, nun könnte man einwenden, ist das nicht alles viel zu kommerziell, zu voll, zu teuer? Die sich durch die Getreidegasse schiebenden Touristen. Die Kesselhitze, wenn es nicht gerade schnürlregnet. Die mit Stammgästen auf Lebenszeit ausgebuchten Spezialhotels und Insider-Unterkünfte (wie das Priesterseminar), in die man niemals, niemals reinkommt. Und dann all der Luxus! Das in Salzburg noch offensiv vorgeführte Geld. Die Zurschaustellung des Adels und der Adabeis. Ist das zeitgemäß? Im einst so stimmungsvoll die Festspiel- und Lebenskünstler wie in einer offenen Kantine versammelnden „Triangel“ geht es inzwischen auch nur noch ums Sehen und Gesehenwerden, und die Preise werden immer unverschämter. Dieses übersteigerte, übertriebene, vollständig überzuckerte Salzburg – will und kann man das überhaupt noch?
Meine Antwort ist jedes Jahr dieselbe: Ja und nochmals Ja und unbedingt! Auch wenn man mit noch so vielen Zweifeln anreist, die Schönheit der Stadt, deren barocker Anmut kein Zeitgeist etwas anhaben kann, wird sie im Nu vertreiben, und dann setzt das ein, was ich den Salzburg-Effekt nenne: die Verzauberung durch den Genius Loci und die Vielfalt der Kunst. Nach Bayreuth fährt man wegen der Oper, nach Salzburg wegen des Gesamtpakets: Oper plus.
Selbst der „Jedermann“, den ich als Kritikerin nun wahrlich schon oft, wenn nicht zu oft, gesehen habe, kann manchmal noch etwas von diesem Zauber auslösen, den er offenbar für alle Erstseher hat. In der Neuinszenierung von Robert Carsen gibt es neben aller Party- und Opernhaftigkeit eine Szene, in der Philipp Hochmair als Todeskandidat ganz alleine vor dem nächtlich beleuchteten Dom steht, bekleidet nur mit einer Unterhose, seine restliche Kleidung presst er als Bündel vor den Bauch. Der reiche Mann, nackt und bloß, verlassen von der Welt. Ein stummes, anrührendes Bild. Ecce homo! Dazu über dem Dom leuchtend der Abendstern.
„Wenn sich die Naturkulisse, Architektur und Menschen vereinen, ist eine göttliche Kraft spürbar“, hatte Hochmair zuvor in Interviews gesagt. Voilà! Der Publikumsliebling vertritt das unverwüstliche Stück auch jenseits der Bühne vortrefflich. Die Vorstellungen sind schon seit Januar nicht nur ausverkauft, sondern total überbucht. Das ist mehr als Tradition und Folklore. Das ist, wie vieles in Salzburg, ein Mirakel.
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