Österreich:Rot-pinkes Experiment

- Wien 16.11.2020 - Wien-Wahl 2020 Koalition - Nach erfolgreich beendeten Koalitionsverhandlungen zwischen der SPÖ und

Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) und sein designierter Stellvertreter: Neos-Chef Christoph Wiederkehr (l.).

(Foto: Georges Schneider/imago images)

Wiens erste sozialliberale Koalition setzt auf Bildung und Klimaschutz.

Von Cathrin Kahlweit, Wien

Man merkte Christoph Wiederkehr die Euphorie an: Der 30-Jährige präsentierte am Montagmorgen gemeinsam mit Wiens Bürgermeister Michael Ludwig die "erste sozialliberale Koalition" in Österreichs Hauptstadt und in ganz Österreich - und stellte etwa ein Dutzend Mal fest, dass den beiden neuen Partnern da ein "großer Wurf" gelungen sei. Der Landeschef der Neos, einer kleinen, liberalen Partei, die bei der Wahl in Wien im Oktober auf 7,5 Prozentpunkte kam, dürfte die Größe des Wurfs auch auf die eigene Truppe gemünzt haben. Denn bei den Neos gilt es als schöner Überraschungserfolg, dass sie nun, nach einer ersten Regierungsbeteiligung in Salzburg, auch in einer zweiten Koalition und damit verstärkt an den Hebeln der Macht sitzen.

Der große, ja übermächtige Partner ist und bleibt die SPÖ, die unter Ludwig 41,6 Prozent geholt hatte und sich damit einmal mehr aussuchen konnte, mit wem sie regieren wollte. Bisher waren das die Grünen gewesen; aber denen wurde nach der Wahl schnell signalisiert, dass die Roten diesmal die Pinken favorisieren. Die Chemie mit der grünen Vizebürgermeisterin Birgit Hebein soll, heißt es, nicht gestimmt haben, Ludwig seien zudem einige grüne Verkehrsprojekte zu weit gegangen.

Mit den Neos hat der Bürgermeister nun einen weit kleineren und damit schwächeren Partner an Bord geholt, der wirtschaftspolitisch eher auf SPÖ-Linie liegt. 18 Verhandlungstage und drei Dutzend Arbeitsgruppen später war es so weit; nach "Verhandlungen auf Augenhöhe", wie Wiederkehr schwärmte, werde man auf den "bestehenden Errungenschaften" aufbauen. In dieser Formulierung steckte erkennbar eine kleine Spitze, denn der ÖVP-Spitzenkandidat und amtierende Finanzminister, Gernot Blümel, hatte den Wien-Wahlkampf mit der Forderung bestritten, Wien "nach vorn bringen" und "besser machen zu wollen", was der politischen Konkurrenz in der laut Umfragen "lebenswertesten Stadt der Welt" ziemlich aufstieß.

Tatsächlich ist das Programm, was sich SPÖ und Neos vorgenommen haben, recht ambitioniert, zumal in Zeiten von Corona und Wirtschaftsflaute. In der Bildung, dem Leib- und Magenthema von Wiederkehr, soll es pro Jahr zehn neue Gratis-Ganztagsschulen zusätzlich zu den bereits bestehenden 70 geben; die Zahl der Schulpsychologen soll massiv aufgestockt werden, außerdem sollen die Schulverwaltungen zusätzliche Kräfte erhalten, um Lehrer von administrativen Aufgaben zu befreien. Wien soll bis 2040 klimaneutral werden; ein neues, eigens auf Wien ausgerichtetes Klimaschutzgesetz ist in Planung.

Die Grünen hatten sich Hoffnungen auf eine Fortsetzung der Koalition gemacht

Der Bau von 1500 neuen Gemeindewohnungen ist avisiert, eine Verknüpfung der Vergabe von Sozialwohnungen an Deutschkenntnisse, wie sie etwa die ÖVP im Wahlkampf gefordert hatte, werde es, stellen Liberale und Sozialdemokraten fest, nicht geben. Ein Punkt, der den Neos neben der Bildung besonders wichtig war, ist Transparenz. Die Kontrollrechte des Rechnungshofs sollen deshalb ausgebaut werden, dieser soll auch Parteifinanzen prüfen dürfen. Außerdem soll es einen Antikorruptionsbeauftragten und einen Ombudsmann für Informationsfreiheit geben.

Wiederkehr selbst, der seit zwei Jahren Vorsitzender der Wiener Neos ist, soll in der neuen Koalition Vizebürgermeister werden - ein Amt, das eigentlich auch der SPÖ zugestanden hätte. Dass diese den Neos den Posten quasi schenkt, wird als Zugeständnis an den neuen Partner gewertet, ebenso die Übertragung des Bildungsressorts, das Wiederkehr übernehmen dürfte. Der junge Politikwissenschaftler, dessen Vater aus Ungarn und dessen Mutter ursprünglich aus Frankreich stammt, war vor acht Jahren Gründungsmitglied der Neos und zeitweilig Vorsitzender des Studentenverbandes. Er stammt, anders als viele Parteifreunde, nicht ursprünglich aus dem Umfeld der ÖVP, sondern sei, sagte er der SZ, "immer ein liberaler Kopf gewesen". Zwischen Konservativen und Sozialdemokraten gebe es einen "breiten Platz im Zentrum", zumal die ÖVP unter Sebastian Kurz "stark nach rechts" gerutscht sei. Dessen Selbstdarstellung sei eine "Hülle, viel Inszenierung und Populismus", aber: "Das bröckelt." Typisch für die Regierungspolitik findet er das aktuell vorgelegte Antiterrorpaket nach dem Anschlag vom 2. November: Menschen- und Freiheitsrechte seien damit in Gefahr.

Die Wiener Grünen unter Birgit Hebein, die sich nach zehn Jahren rot-grüner Koalition Hoffnungen auf eine Fortsetzung der Koalition gemacht hatten, diskutierten am Montag ihre Zukunft und zogen personelle Konsequenzen. Hebein wurde nicht zur Fraktionschefin gewählt, möglicherweise muss sie auch die Parteiführung abgeben.

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