Patricia Davis ist als Bezirkspolitikerin der Inneren Stadt in Wien dafür verantwortlich, dass alles läuft im touristischen Zentrum. Dass die historischen Plätze schön aussehen, die Fiaker mit ihren Pferden dort sind, wo sie hingehören, und es abends nicht zu laut ist. Ihre Arbeit, sagt die konservative Politikerin, habe viel von der einer Hausmeisterin. Davis ist nicht dafür verantwortlich, was ihre Partei auf Bundesebene macht. Dennoch war sie Anfang Januar ziemlich wütend, als klar wurde, dass die Versuche der ÖVP, zusammen mit den Sozialdemokraten und den liberalen Neos eine Dreierkoalition zu bilden, gescheitert waren und die Konservativen mit der in Teilen extrem rechten FPÖ über eine Regierung verhandeln würden. Sie fühle sich „verarscht“, schrieb Davis auf Facebook, und forderte ihre Partei auf, sich wieder mit SPÖ und Neos „an den Tisch“ zu setzen, „und zwar dalli! Ihr habt Verantwortung. Alle. Nehmt sie verdammt nochmal wahr!“
Einige Tage später relativierte Davis zwar ihren Rant auf Social Media, indem sie sich dagegen verwahrte, „das Postergirl der ÖVP-Unzufriedenheit“ zu sein. Auf SZ-Anfrage wollte sie sich dazu nicht äußern. Dennoch dürfte sie einigen in der ÖVP aus der Seele gesprochen haben. Denn bei den österreichischen Konservativen rumort es angesichts der Vorstellung, die ÖVP könnte Herbert Kickl zum Regierungschef machen, der gerne als „Volkskanzler“ gegen die Eliten und die Europäische Union kämpfen möchte.
Zwar redet kaum jemand offen und schon gar nicht mit der Presse. Aber wenn man in der ÖVP herumfragt, ist viel unausgesprochener Groll zu bemerken. Ein Kommunalpolitiker berichtet von Parteiaustritten, ein anderer sagt, Kickl sei rechtsextrem und skrupellos, bereit, „in alle Schubladen zu greifen“. Die ÖVP werde ein „Kainsmal“ davontragen, wenn sie diesem Mann ins Kanzleramt verhelfe.
Nur die Altvorderen haben Mut, offen zu sprechen
Und so sind es die Altvorderen, die den Unmut an die Öffentlichkeit tragen müssen. Franz Fischler, 78, zum Beispiel. Der Tiroler mit dem markanten Vollbart war von 1995 bis 2004 EU-Kommissar für Landwirtschaft und verkörpert wie kaum jemand die alte, nach Europa ausgerichtete ÖVP. Die Partei, deren Außenminister sich im Juni 1989 mit seinem ungarischen Amtskollegen am Eisernen Vorhang traf und ein Stück davon herausschnitt. Die Partei, die den Beitritt Österreichs zur EU vorantrieb. Am Telefon sagt Fischler, Kickl werde nicht nur ein riesiger Schaden für Österreich sein, er werde „auch in Europa versuchen, zusammen mit Herrn Orbán und anderen europäischen Regierungschefs Schwierigkeiten zu machen“. Erst vor wenigen Tagen sei Orbáns Büroleiter bei einer Diskussion am Wiener Burgtheater aufgetreten und habe „groß getönt, dass er und sein Chef sich auf Kickl freuen, denn dann könnte bald Schluss sein mit dem Unfug der liberalen Demokratie“.
Für die ÖVP befürchtet Fischler ebenfalls Schlimmes. Es werde zu einer Zerreißprobe kommen, „da es viele Leute gibt, die wie ich denken und das Spiel nicht mitmachen wollen“. Warum hört man dann keinen Protest? Fischler glaubt, dass viele in der ÖVP nach dem „alten österreichischen Prinzip“ denken, es werde schon nicht so schlimm werden. Davor könne er nur warnen, sagt Fischler. Wie ernst es ihm selbst ist, sagt er dann auch: „Ich werde aus der ÖVP austreten, wenn sie Herrn Kickl dazu verhilft, Bundeskanzler zu werden.“
Ferry Maier, 73, hat sein ÖVP-Parteibuch schon unter Sebastian Kurz zurückgegeben. Für Maier, der in den Neunzigerjahren ÖVP-Generalsekretär war und bis 2012 Abgeordneter im Parlament, hat der Verfall der ÖVP bereits 2017 unter dem gehypten und dann tief gefallenen Bundeskanzler Sebastian Kurz begonnen. Unter dem Populisten Kurz habe die Partei ihre DNA verloren, sagt Maier. „Es gab kaum Inhalte im Wahlkampf, außer dass man Kickl verhindern will.“
Kickl war als Innenminister zuständig fürs Asylwesen
Maier sitzt in einem Café in Wien-Döbling. Einem Bezirk, der nicht nur für Heurigenlokale, Villen und altes Geld bekannt ist, sondern auch für die sogenannten Döblinger Regimenter: gutbürgerliche Familien, in denen seit Generationen die Konservativen gewählt werden. Maier gehört selbst zu dieser Gesellschaftsschicht, die man auch daran erkennt, dass „der Dame“ in den Mantel geholfen wird. Und er gehört zu denjenigen, die für die christlich-sozialen Grundsätze der Volkspartei stehen. Während der Flüchtlingskrise 2015 und 2016 koordinierte er für die damalige große Koalition die Unterbringung von Geflüchteten; allein der Titel, den er trug, sprach vom damaligen Verständnis von Asylsuchenden: Regierungsbeauftragter für die Bereitstellung menschenwürdiger Unterbringung von Flüchtlingen.
Maier kann sich noch gut daran erinnern, als dann Herbert Kickl 2017 unter Sebastian Kurz Innenminister wurde und damit auch zuständig für das Asylwesen war. Kickl ließ Aufnahmestellen von Flüchtlingen in „Ausreisezentren“ umbenennen. Das Erste, was Maier 2019 tat, nachdem die Regierung von ÖVP und FPÖ unter Kurz nach der Ibiza-Affäre zerbrochen und Kickl als Innenminister entlassen worden war: Er ging zu einem dieser „Ausreisezentren“ und schraubte eigenhändig das Schild ab.
Maier ist zwar raus aus der Politik, nimmt aber noch immer Anteil am Tagesgeschehen, über seine Smartwatch flimmern Meldungen aus der Kronen Zeitung. Er versteht nicht, wie eine Partei freiwillig die Kanzlerschaft aufgeben will, um Juniorpartner unter Kickl zu werden. Er kann es sich nicht nur mit einem verqueren Verständnis von Macht erklären. „Ich sage immer: Was wir bei der ÖVP sehen, ist ein Ohnmachtsrausch. Früher hat man versucht, Macht zu gewinnen und zu gestalten. Jetzt ist man ohnmächtig, aber vom Rausch beseelt mitzuregieren.“
Warnung vor dem Schicksal anderer konservativer Parteien
Die ÖVP werde sehen, „was ein Kanzler Kickl auslöst an Diskussionen quer durch Europa. Wir leben von Export und Betriebsansiedlungen, da werden sich noch manche Wirtschaftsvertreter wundern“. Maier glaubt, dass die ÖVP aus „purer Berechnung“ handle. „Man denkt, vielleicht scheitert Kickl oder wir haben den Fuß in der Tür und können für unsere Leute etwas erreichen. Das ist verantwortungslos.“ Er selbst habe „Angst um die Demokratie, die Justiz, die Presse- und die Meinungsfreiheit“.
Der studierte Wirtschaftswissenschaftler fing in den Achtzigerjahren bei der Wiener ÖVP an, als diese ein Gegengewicht zu den durchregierenden Sozialdemokraten des roten Wien sein wollten. Die ÖVP positionierte sich damals unter dem Claim „Bunte Vögel“ als liberale, frische Kraft. Bei der Vorstellung, dass sich die Konservativen, die heute in Koalitionen mit der FPÖ auf Länderebene Genderverbote mittragen, einmal als „bunte Vögel“ bezeichnet haben, muss Maier lachen. Er fürchtet, dass die ÖVP das Schicksal vieler christdemokratischer Parteien in Europa ereilen könnte: inhaltsleer, ausgehöhlt von Populisten, auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit. „Die FPÖ ist dabei, die neue Volkspartei zu werden. In den Bundesländern wird es die ÖVP noch geben, aber ihre Zeiten als staatstragende Partei könnten bald vorbei sein.“
Der amerikanische Politologe Daniel Ziblatt hat in seiner Studie über konservative Parteien 2017 ausgeführt, dass diese zu den Fundamenten einer Demokratie gehören. Weil sie ein breites Spektrum vertreten und einen Großteil der Bevölkerung erreichen. Länder, die in ihrer Geschichte starke konservative Parteien hatten, so Ziblatt, waren vor Extremismus gefeit. Im Umkehrschluss heißt das aber: Wenn konservative Parteien schwach sind, wird auch die Demokratie geschwächt. Das sieht Maier ebenfalls so. Österreich, sagt er, nehme möglicherweise etwas voraus, was auch in Deutschland passieren könne. Dass die CDU eines Tages in eine Situation kommt, in der sie vielleicht nicht mehr ausschließen kann, mit der AfD zu koalieren. „Jeder Parteichef muss schauen, was in der Nachbarschaft passiert, das kann infektiös sein.“
Äußert er denn seine Sorgen in der Partei? Schon, sagt Maier, habe er immer getan. Inzwischen sei es aber so, dass die meisten ÖVP-Politiker die Straßenseite wechseln, wenn sie ihn sehen.