ÖsterreichKann ein Land heute noch neutral sein?

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Neos-Parteichefin Beate Meinl-Reisinger vermisste in den Koalitionsgesprächen den notwendigen Reformwillen.
Neos-Parteichefin Beate Meinl-Reisinger vermisste in den Koalitionsgesprächen den notwendigen Reformwillen. (Foto: dpa)
  • Österreichische Außen- und Sicherheitspolitik war lange kaum wahrnehmbar.
  • Außenministerin Beate Meinl-Reisinger legt ihr Amt nicht nur proaktiv aus, sondern zweifelt auch daran, dass die österreichische Neutralität ein gutes Sicherheitskonzept sei.
  • Damit macht sie sich viele Feinde. Die extrem rechte FPÖ wirft Meinl-Reisinger „Neutralitätsverrat“ vor, während Russlands Ex-Präsident Medwedjew mit militärischen Konsequenzen droht.
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Österreichs Außenpolitik war lange vor allem für Skandale gut. Außenministerin Beate Meinl-Reisinger will auf der internationalen Bühne bestehen – und rüttelt dabei sogar am Allerheiligsten.

Von Verena Mayer, Wien

Als Wolodimir Selenskij im Juni in Österreich war, verhielt er sich wie bei jedem Staatsbesuch. Er trug sein typisches dunkles Outfit, bedankte sich für die Gastfreundschaft und erinnerte daran, was es im Krieg gegen Russland weiterhin brauche. Neue Sanktionen, das Einfrieren russischer Aktiva, mehr Druck auf Moskau. Und doch war vieles ungewöhnlich am Besuch des ukrainischen Präsidenten in einem Prunksaal der Wiener Hofburg. Denn während Selenskij seit Beginn des russischen Angriffskrieges so gut wie alle EU-Mitgliedsländer besucht hatte, war dies sein erster Aufenthalt in Wien.

Es war ein von gegenseitiger Herzlichkeit geprägter Termin, der sich stark von jenem Märztag 2022 unterschied, als Selenskij per Video ins österreichische Parlament zugeschaltet war. Damals bauten die Abgeordneten der extrem rechten FPÖ erst Schilder mit der Aufschrift „Platz für Frieden“ oder „Platz für Neutralität“ auf ihren Pulten auf und verließen dann demonstrativ den Saal. Und auch von den Sozialdemokraten war nur die Hälfte der Mandatare anwesend, als Selenskij über Kriegsverbrechen in seiner Heimat berichtete.

Am ukrainischen Unabhängigkeitstag postete Meinl-Reisinger ein Foto, auf dem sie in ukrainischer Tracht zu sehen ist

Dass sich Österreich beim Besuch des Ehepaars Selenskij nun auch auf höchster Ebene mit der Ukraine solidarisierte, liegt vor allem an der veränderten Weltlage. Österreich hat sein Verhältnis zu Russland, das noch bis 2024 in der offiziellen Sicherheitsstrategie als „wesentlicher Partner“ bezeichnet worden war, grundlegend überarbeitet und sich unter anderem von russischem Gas unabhängig gemacht. Es liegt aber auch an Außenministerin Beate Meinl-Reisinger und ihrem Verständnis vom Allerheiligsten der österreichischen Politik, der sogenannten immerwährenden Neutralität.

Die längste Zeit war österreichische Außen- und Sicherheitspolitik kaum wahrnehmbar. Und wenn sie es einmal war, dann sorgte sie für Skandale, wie 2018 in Person von Karin Kneissl. Die parteilose, von der FPÖ nominierte Außenministerin hatte nicht nur Wladimir Putin zu ihrer Trachtenhochzeit eingeladen, sondern war nach einem gemeinsamen Walzer auch in einer tiefen Verbeugung vor ihm versunken. Meinl-Reisinger hingegen war schon dreimal in der Ukraine und postete am ukrainischen Unabhängigkeitstag ein Foto, auf dem sie in ukrainischer Tracht zu sehen ist.

Man trifft die 47-Jährige Ende September in einem Besprechungssaal des Außenministeriums, wo sie eine Journalistenrunde empfängt. Meinl-Reisinger bittet ihre Mitarbeiterin um schwarzen Kaffee gegen den Jetlag, sie ist gerade aus New York zurückgekommen, wo sie bei der UN-Generalversammlung war und, wie sie erzählt, die Vertreter von „91 Staaten bilateral getroffen“ habe. Auch sonst hat Meinl-Reisinger gut zu tun, um nicht zu sagen: Sie hat eine Dreifachbelastung. Meinl-Reisinger ist nicht nur Außenministerin, sondern auch Vorsitzende der liberalen Neos und als solche Teil der Regierungsspitze. Seit Februar regiert in Österreich ein Bündnis aus konservativer ÖVP, sozialdemokratischer SPÖ und eben den Neos. Es muss nicht nur eine gewaltige Schuldenkrise bewältigen und das System reformieren, sondern auch der weiterhin wachsenden Beliebtheit der extrem rechten FPÖ etwas entgegensetzen.

Doch es ist vor allem Meinl-Reisingers Verständnis von Außenpolitik, das auffällt. Zu ihren ersten Amtshandlungen gehörte es, in die Ukraine zu fahren. Das ist auch deswegen bemerkenswert, weil die erste bilaterale Dienstreise österreichischer Außenminister traditionellerweise in ein Nachbarland führt: in die Schweiz nämlich, wo die Neutralität ebenso zum nationalen Selbstverständnis gehört wie in Österreich.

Auf eines aber können sich alle in Österreich einigen: Die Neutralität gilt als unantastbar

Wenn Österreich am 26. Oktober seinen Nationalfeiertag begeht, dann wird nicht nur daran gedacht, dass an diesem Tag des Jahres 1955 das Verfassungsgesetz über die österreichische Neutralität beschlossen wurde. Es legt etwa fest, dass Österreich keinem Militärbündnis beitreten darf, und war die Grundlage dafür, dass das Land nicht wie Deutschland geteilt wurde. Sondern der Nationalfeiertag wird traditionell immer auch mit einer Leistungsschau des österreichischen Bundesheers gefeiert. Da legen auf dem Wiener Heldenplatz dann Rekrutinnen und Rekruten ihr Gelöbnis ab, man kann Modelle von Panzern und Eurofightern besichtigen und sich neben einer „Palatschinkenstation“ über die Auslandseinsätze des Bundesheers informieren.

Den Status als militärisch neutrales Land feiern, indem man sein Militär aufmarschieren lässt – jedes Jahr im Oktober zeigt sich eine gewisse Widersprüchlichkeit im Umgang mit der österreichischen Neutralität. Auf eines aber können sich alle in Österreich einigen: Die Neutralität gilt als unantastbar, in Umfragen sprechen sich regelmäßig zwei Drittel der Bevölkerung dafür aus, die Neutralität in ihrer ursprünglichen Form zu behalten. Wer das Konzept anzweifelt oder auch nur fragt, wie zeitgemäß es angesichts der Weltlage ist, muss mit enormem Gegenwind rechnen. Zuletzt hat dies 2001 ÖVP-Bundeskanzler Wolfgang Schüssel versucht. Er nannte bei seiner Rede zum Nationalfeiertag die Neutralität in einem Atemzug mit Mozartkugeln und den Lipizzanern und sprach von „alten Schablonen“, die „in der komplexen Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts“ nicht mehr greifen. Seither gab es keine nennenswerte Neutralitätsdebatte mehr.

Zwar geht auch Meinl-Reisinger nicht so weit, die Neutralität aufgeben zu wollen, und schon gar nicht nimmt sie das Wort Nato in den Mund, das in Österreich fast schon etwas Unaussprechliches hat. Aber sie sagt klar: „Die Neutralität schützt nicht und ist kein Sicherheitskonzept.“ Die österreichische Neutralität sei im Laufe ihrer Geschichte zudem bereits verändert worden, etwa durch den Beitritt zur EU. Jetzt sei es an der Zeit, an der Verteidigungsfähigkeit zu arbeiten und als neutrales Land an einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik teilzunehmen.

Es gebe einen Aufbauplan für das österreichische Bundesheer und man beteilige sich am europäischen Luftabwehrprogramm Sky Shield. Dazu müsse in die „geistige Landesverteidigung investiert“ werden, denn auch Österreich sei „leider Gottes Ziel hybrider Angriffe“. Man könne nicht den Kopf in den Sand stecken, so Meinl-Reisinger. „Österreich ist Zielgebiet, auch für Spionage.“

Die extrem rechte FPÖ bekämpft am meisten das Außenministerium unter Meinl-Reisinger

Das könnte man eine pragmatische Herangehensweise finden, doch Meinl-Reisinger hat sich dadurch vor allem Feinde gemacht. So sprach Russlands Ex-Präsident Dmitrij Medwedjew von „militaristischem Eifer“ und drohte, Österreich könnte in die „Einsatzpläne der russischen Streitkräfte einbezogen werden“, sollte es seine Neutralität aufgeben oder gar der Nato beitreten wollen. Zwar droht Medwedjew allen möglichen Ländern alles Mögliche an, klar ist aber, dass man die veränderte österreichische Sicherheitspolitik in Russland wahrgenommen hat.

Am meisten aber bekämpft die extrem rechte FPÖ das Außenministerium unter Meinl-Reisinger. Die FPÖ ist nicht nur traditionell russlandfreundlich, sondern seit Kickls Rückzug aus den Regierungsverhandlungen auch auf Themensuche – und hat in der Außenministerin ein ideales Feindbild gefunden. Die FPÖ bezeichnet Meinl-Reisinger als „Nato-Beate“, spricht von „Neutralitätsverrat“ und nennt die aktuelle Außenpolitik ein „Sicherheitsrisiko“. Dabei hatte sich selbst der populistische Urvater der heutigen FPÖ, Jörg Haider, in den Neunzigerjahren für einen Nato-Beitritt Österreichs ausgesprochen. Erst als Haider merkte, dass die österreichische Neutralität das beliebtere Thema ist, änderte die FPÖ ihre Linie dazu.

Bei seinem Besuch in Wien war Selenskij von Journalisten auch nach der österreichischen Neutralität befragt worden, die es unter anderem verbietet, die Ukraine militärisch zu unterstützen. Selenskij sagte, er könne nur seine persönliche Meinung äußern. Und die bestehe in der Feststellung, dass die Ukraine 2014 ein militärisch neutrales, blockfreies Land gewesen sei, „und jetzt sehen wir, wie das geendet hat“.

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