Süddeutsche Zeitung

Österreich:Nachhall der großen Skigaudi

In Ischgl steckten sich Tausende Urlauber an, nun wollen Verbraucherschützer Schadenersatz einklagen.

Von Cathrin Kahlweit

Sein kurzer Moment des Ruhms im ORF Mitte März wurde für den Tiroler Landesrat für Gesundheit, Bernhard Tilg, letztlich zum Fiasko. Ein Dutzend Mal antwortete er in einem Interview auf die zunehmend irritierten Fragen des Moderators, was denn da genau falsch gelaufen sei in Ischgl, da sei gar nichts falsch gelaufen. "Wir haben richtig agiert", sagte Tilg, oder auch: "Die Behörden haben alles richtig gemacht."

Tilg erholte sich lange nicht von diesem Auftritt; die Behörden, so der Vorwurf, würden die Sache auch noch zu einem Zeitpunkt schönreden, zu dem sie auf Fehlersuche gehen müssten. Der Landeshauptmann von Tirol, Günther Platter (ÖVP), stärkte seinem Kollegen dennoch den Rücken. Es sei einfach, ein "Buch nur von hinten zu lesen", sprich hinterher alles besser zu wissen, sagte er. Die Behörden hätten "in der Situation ihr Menschenmöglichstes gegeben".

Die "Situation", auf die Platter anspielte, ist das gesundheitspolitische und kommunikative Desaster, das sich im März rund um den Skiort Ischgl vollzog. Es hatte letztlich wohl zur Folge, dass sich viele Hundert Gäste mit dem Coronavirus ansteckten; der Ort ging als "Virenschleuder" und "europäischer Superspreader" in die Annalen ein. Ischgl gilt seither als ein Hotspot für die Verbreitung der Pandemie. Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) will davon nichts wissen, er halte nichts von gegenseitigen Schuldzuweisungen, sagte er im Mai auf einer Pressekonferenz; schließlich würde er auch "niemals von den Italienern eine Entschuldigung einfordern dafür, dass italienische Gäste in österreichische Skiorte das Virus eingeschleppt" hätten.

Das aber fordert nun der österreichische Verbraucherschutzverein VSV: eine Entschuldigung bei den Betroffenen. Und nicht nur das. Während seit Monaten die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Gefährdung von Menschen durch übertragbare Krankheiten in Tirol ermittelt, verkündete nun der VSV am Mittwoch, dass man nicht die Republik verklagt habe, sondern am Dienstag zudem auch Musterklagen im Namen von vier Geschädigten eingereicht habe. 6000 Menschen aus 45 Staaten, die sich Mitte März zum Skiurlaub in Ischgl und Umgebung aufhielten, hätten sich beim VSV mit der Information gemeldet, sie seien positiv getestet worden, 1000 davon hätten den Verein beauftragt, ihre Interessen zu vertreten. Die Verbraucherschützer bereiten derzeit eine Sammelklage vor, hoffen aber auf eine gütliche Einigung mit dem Staat und Schadenersatzzahlungen, wie sie etwa nach der Brandkatastrophe in Kaprun angeboten worden seien.

Verbraucherschützer Peter Kolba wirft den Behörden vor, dass sie trotz zahlreicher bekannter Fälle von Covid-Infektionen die Gäste nicht gewarnt und geschützt hätten - und angesichts des drohenden Lockdowns am 13. März das Abreisemanagement in "reinstes Chaos" abgleiten ließen. Die Tourismusindustrie in Tirol habe offenbar "massiv Einfluss genommen auf behördliche Entscheidungen, um möglichst lange den Skibetrieb am Laufen zu halten". Kanzler Kurz, so ein weiterer Vorwurf, habe "fahrlässig" gehandelt, weil er am frühen Nachmittag des 13. März die Verhängung der Quarantäne über das Paznaun-Tal angekündigt habe, diese aber erst am Abend in Kraft trat. Dadurch hätten Tausende Gäste völlig unkontrolliert die Region verlassen können.

Als höchst problematisch betrachten Ermittler, Verbraucherschützer und Betroffene die gesamte Handhabung der Krise. In der Nacht zum 5. März hatten isländische Behörden eine Warnung an das Gesundheitsministerium in Wien geschickt. Acht Touristen, die in Ischgl Urlaub gemacht hätten, seien mit Corona nach Island zurückgekehrt. Auch ein Barmann im mittlerweile legendären Après-Ski-Lokal "Kitzloch" wurde positiv getestet. In Ischgl wurde allerdings verbreitet, das Virus sei nicht sonderlich ansteckend, Hotels und Bars blieben offen. Erst am 10. März wurden Konsequenzen gezogen, Bars machte man zu, die Lifte liefen weiter. Die Saison sollte gerettet werden. Am 13. März dann die Notbremse - die dazu führte, dass mehr als 10 000 Gäste aus dem Ausland sich auf den Heimweg machten. Dicht gedrängt im Bus, per Bahn, in Kolonnen mit dem Auto.

Mit den vier Musterklagen, die nun beim Landesgericht für Zivilrechtssachen in Wien eingereicht wurden, soll Schadenersatz erstritten werden. In einem Fall beteiligen sich die Hinterbliebenen eines Mannes an dem Verfahren, der sich wohl bei der Abreise im Bus infiziert haben dürfte; er starb nach einem längeren Krankenhausaufenthalt. Ein anderer Kläger lag mit Lungenentzündung in der Klinik, überlebte aber; zwei weitere Betroffene geben an, sie seien ebenfalls in Lebensgefahr gewesen. Verbraucherschützer Kolba hofft auf eine Einigung mit der Republik Österreich. Niemandem sei mit jahrelangen Prozessen gedient.

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SZ vom 24.09.2020
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