Es gibt eine große begriffliche Bandbreite für das, was der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz diese Woche getan hat. Um im Deutschen Bundestag einen Entschließungsantrag über Migration durchzubringen, ließ sich Merz von der AfD zu einer Mehrheit verhelfen – ein Manöver, das die Parteien der Mitte bis dahin stets ausgeschlossen hatten. Die einen erkennen darin eine „Zäsur“, die anderen einen „Tabubruch“. Auch von „Zeitenwende“ war die Rede und davon, dass sich Merz als „Brandmauerspecht“ betätigt habe.
Fest steht, dass Merz bewusst oder unbewusst dazu beitrug, die AfD und ihre Positionen zu normalisieren. Und dass er damit eine lange und fest verschlossene Tür öffnete. Wie weit, wird sich zeigen. Was hinter dieser Tür hervorkommen kann, lässt sich aber sehr gut in Österreich beobachten. Dort ist die konservative ÖVP bereits Anfang der Nullerjahre auf die damals rechtspopulistische FPÖ zugegangen. Ein Vierteljahrhundert später können sich die Konservativen nur mehr an der Macht halten, wenn sie dem extrem rechten FPÖ-Chef Herbert Kickl ins Kanzleramt verhelfen.
Friedrich Merz ist ein ausgewiesener Kenner der österreichischen Politik, wie er zuletzt Mitte Januar im Podcast „Alles gesagt“ der Zeit bewies. Zwar verlor er bei den Daten der Koalitionen von ÖVP und FPÖ ein wenig die Übersicht (was bei den vielen an Korruptionsskandalen zerbrochenen österreichischen Regierungen absolut nachvollziehbar ist), die Schlüsse, die er daraus zog, waren aber richtig: Die Populisten, so Merz, seien „hoffähig gemacht worden in der irrigen Annahme, man könne sie disziplinieren oder domestizieren“. Und dann kam sein Fazit: „Wenn man sich solche Nattern an den Hals holt, wird man von ihnen erwürgt.“
Man muss sicher nicht so drastische Metaphern verwenden wie Friedrich Merz, um in der österreichischen ÖVP eine Case Study zu erkennen, welche Folgen es haben kann, wenn eine christdemokratische Partei sich Rechtspopulisten und extremen Rechten öffnet. Die ÖVP hat nicht nur wenig politischen Spielraum, ihr sind über die Jahre auch die Wählerinnen und Wähler abhandenkommen. In vielen Orten Österreichs wird nicht mehr die ÖVP als klassische Volkspartei wahrgenommen, sondern die extrem rechte FPÖ.
In der vergangenen Woche habe ich für eine Recherche aktive und ehemalige ÖVP-Politiker gefragt, wie sie auf den Zustand ihrer Partei blicken. Viele sprachen nur off the record, aber was sie sagten, ähnelte sich: Die Partei sei personell ausgehöhlt, habe kaum mehr Alleinstellungsmerkmale. Eine Koalition unter Herbert Kickl, der von vielen in der ÖVP hinter vorgehaltener Hand als rechtsextrem und skrupellos bezeichnet wird, könnte der Stoß sein, der die Partei in den Abgrund befördere.
Ein Satz eines früheren hochrangigen ÖVP-Politikers ist mir besonders gut in Erinnerung. Der glaubt, dass Österreich gerade etwas vorausnehme, was auch in Deutschland passieren könne. Dass nämlich die CDU eines Tages in eine Situation kommt, in der sie vielleicht nicht mehr ausschließen kann, mit der AfD zu koalieren. „Jeder Parteichef muss schauen, was in der Nachbarschaft passiert, das kann infektiös sein.“
Diese Kolumne erscheint auch im Österreich-Newsletter, der die Berichterstattung der SZ zu Österreich bündelt. Gleich kostenlos anmelden.