Anfang der Woche trat Christian Stocker, der neue Vorsitzende der konservativen ÖVP, zum ersten Mal mit FPÖ-Chef Herbert Kickl vor die Medien, um über den Beginn der Koalitionsverhandlungen zwischen den beiden Parteien zu informieren. Mit jenem Mann also, der „Volkskanzler“ werden will und den Stocker vor nicht allzu langer Zeit als Gefahr für die Demokratie bezeichnet hatte.
Ich weiß nicht, was ich von diesem Termin erwartet habe. Davon, dass Stocker nun neben Herbert Kickl stehen würde, der von der ÖVP eine Art Unterwerfung gefordert hatte, damit er sich mit dieser Partei überhaupt an den Tisch setzt. Ich weiß jedoch, was ich nicht auf dem Zettel hatte: dass Stocker lächelnd von den Plänen zur Budgetkonsolidierung erzählen würde, als arbeite er mit Kickl seit Jahren vertrauensvoll zusammen. Als gehe es nur darum, einen ordentlichen Haushalt hinzubekommen.
Christian Stocker hört nicht auf, mich zu überraschen. Immer wenn man glaubte, alles an politischer Selbstverleugnung gesehen zu haben, legte der ÖVP-Chef noch einen drauf. So versuchte er in einem Interview mit dem Standard zu erklären, warum er vor der Wahl eine Koalition unter Kickl kategorisch ausgeschlossen hatte und nun seine Volkspartei in ebendiese führen will. Auf die Frage, ob er möglicherweise die Unwahrheit gesagt habe, antwortete Stocker, er sei sich bewusst, dass er seine „Reputation aufs Spiel setze und womöglich sogar Vertrauen verloren habe“. Aber er halte es für richtig, mit der FPÖ über eine Regierung zu verhandeln. Ein Politiker, der nicht nur dazu steht, dass er Vertrauen verspielt hat. Sondern der danach auch einfach weitermachen will.
Manche glauben, das liege daran, dass Stocker von Beruf Anwalt ist und es daher gewohnt sei, die Mandate, die er angenommen hat, auch auszuführen. Ich muss an den Anwalt und Schriftsteller Ferdinand von Schirach denken, der in einer Kurzgeschichte sein Alter Ego, einen berühmten Strafverteidiger, sagen ließ, dass er die Wahrheit nicht wissen möchte. Wüsste er nämlich, was sein Mandant getan hat, dann dürfe er von Rechts wegen nicht behaupten, er sei unschuldig. Anders kann ich mir jedenfalls Stockers Antwort auf die Frage nicht erklären, wie er zu den Rechtsextremen im Dunstkreis der FPÖ stehe, die eines Tages vielleicht in Ministerbüros landen könnten. Da könne er keine Verantwortung übernehmen, sagte Stocker, er sei „nicht die Nanny der FPÖ“.
Was das bedeutet, konnte man ebenfalls diese Woche beobachten. Da wurde bekannt, was französische Journalisten heimlich bei einem Stammtisch der FPÖ in Wien-Simmering mitgeschnitten hatten. Höherrangige FPÖ-Politiker äußerten ausländerfeindliche Sprüche, zweifelten die EU-Mitgliedschaft Österreichs an und Regelwerke wie die Europäische Menschenrechtskonvention. Und sie nannten ihren zukünftigen Koalitionspartner „jämmerlich“ und „machtgeil“. Die Reaktion der ÖVP darauf war verhalten.
Man sei befremdet über Aussagen, die sich offen einen Austritt aus der EU wünschten, hielt die ÖVP fest, ein mögliches Regierungsprogramm müsse „klar proeuropäisch“ sein. Auf die anderen Punkte ging man nicht ein. Offenbar hat inzwischen ein Großteil der ÖVP in den Anwaltsmodus geschaltet.
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