Zu den Ritualen in Österreich gehört es, auf einen Saal mit roten Tapeten, goldenen Verzierungen und einer Standuhr zu starren.
Am Mittwochabend ist es wieder so weit, Österreich sitzt vor den Bildschirmen. Und Bundespräsident Alexander Van der Bellen tritt in der Wiener Hofburg vor die Kameras, um den „lieben Österreicherinnen und Österreichern und allen, die hier leben“ zu sagen, was da gerade passiert im Land. Herbert Kickl, Chef der extrem rechten FPÖ, sei soeben bei ihm gewesen und habe ihn darüber informiert, dass er den Auftrag zur Regierungsbildung wieder abgeben werde. Dass der Versuch, zusammen mit der konservativen ÖVP eine Koalition zu bilden, gescheitert sei. So wie Anfang Januar auch schon die Verhandlungen zwischen ÖVP, Sozialdemokraten und den liberalen Neos für eine Dreierkoalition scheiterten. Und dass die Situation nun kompliziert sei.
Und so spricht Van der Bellen, 81, einst Professor für Volkswirtschaft, mal wieder als Erster das Offensichtliche aus. Dass sich die politische Landschaft dermaßen polarisiert habe, die Menschen sich so unversöhnlich gegenüberstünden wie noch nie. Dass es in der Politik keine Bereitschaft mehr gebe, Kompromisse zu finden. Dass es das Österreich von heute, die Zweite Republik, aber nur gebe, weil Kompromisse immer wie ein „Schatz“ gepflegt worden seien. Und dass es jetzt um nichts weniger gehe als „das Staatsganze“.
Van der Bellens Worte sind wie der kalte Waschlappen auf die heiße Stirn des Landes
In den kommenden Tagen, sagt Van der Bellen, wolle er daher noch einmal mit allen Parteien sprechen. Um zu sehen, ob es nicht doch Möglichkeiten für einen Kompromiss gibt, etwa für eine neue Dreierkoalition oder eine Minderheitsregierung, die vom Parlament toleriert wird.
Van der Bellens Worte sind wie der kalte Waschlappen auf die heiße Stirn des Landes. Als müsste man nach Tagen des Fieberns plötzlich wieder klar denken. Erst jetzt scheinen viele zu realisieren, wie akut die politische Situation ist und wie sehr sie sich inzwischen womöglich zum Zustand einer Staatskrise chronifiziert hat.
Es begann damit, dass Herbert Kickl und ÖVP-Chef Christian Stocker Mitte Januar gemeinsam vor die Presse traten. Die beiden hatten kurz zuvor vereinbart, Koalitionsverhandlungen aufzunehmen, und sprachen jetzt über den Haushalt. Das Thema drängte, Österreich ist hoch verschuldet und stand kurz davor, ein EU-Defizitverfahren durchlaufen zu müssen. Um das abzuwehren, standen die beiden also im Parlament und präsentierten ihre erste Einigung – über Sparmaßnahmen.

Aber war da nicht noch was? Kickl hatte im Wahlkampf immer gesagt, was er tun werde, wenn er an die Macht kommen würde. Er wolle ein „Volkskanzler“ sein – den Begriff verwendeten schon die Nazis. Österreich wolle er „zur Festung“ machen, nach dem Vorbild von Viktor Orbán, der Ungarn zu einer illiberalen Demokratie umgebaut hat. Stocker hatte Kickl deswegen noch im Wahlkampf im Herbst als Gefahr für die Demokratie bezeichnet und ihm im Plenarsaal des Parlaments entgegengerufen, dass ihn niemand brauche, weder hier noch in der Republik.
Eine perfektionierte Fähigkeit zur Verdrängung
Was danach passierte, kann man nur als Verdrängung bezeichnen, eine Fähigkeit, die Österreich im Lauf seiner Geschichte perfektioniert hat. Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist, wie es schon in der Operette „Die Fledermaus“ heißt. Seit Alexander Van der Bellen am Dreikönigstag Herbert Kickl mit der Regierungsbildung beauftragte, kamen die Verhandler von ÖVP und FPÖ an einem Tisch mit rot-weiß-roten Blumengestecken zusammen und sprechen über Migration, Europapolitik, Wirtschaft, Soziales, Steuern, Verfassung, Kultur und Medien.
Aber: In den Arbeitsgruppen der FPÖ sitzen Leute, die Mitglieder bei als radikal geltenden Burschenschaften sind. Ein Verhandler der FPÖ hat in den Neunzigerjahren einen Aufsatz darüber geschrieben, dass das österreichische Verbotsgesetz, das seit 1947 nationalsozialistische Aktivitäten unter Strafe stellt, die Grund- und Freiheitsrechte beeinträchtige. Ein anderer hatte Kontakte mit Identitären, die vom deutschen Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft werden. Die FPÖ-Politikerin Susanne Fürst sieht durch „Massenzuwanderung“ einen „Bevölkerungsaustausch“ im Gange und setzt sich für „Remigration“ ein. Sie ist als Justizministerin im Gespräch.
Bis Mittwochvormittag scheint all das für einige noch immer kein Problem zu sein. Georg Knill, Präsident der österreichischen Industriellenvereinigung, empfängt die Presse zu einem Gespräch. Der Industriellenvereinigung wird nachgesagt, Einfluss auf die Verhandlungen für eine Dreierkoalition genommen zu haben, weil sie mit den sozialdemokratischen Positionen nichts anfangen konnte. Die SPÖ hatte etwa Vermögensteuern gefordert. Die Vorwürfe gegen seine Vereinigung weist Knill aber zurück. „Wir haben keine Rolle am Scheitern der Dreierkoalition gespielt.“
Die Industrie stimmt mit dem Parteiprogramm der FPÖ teilweise überein
Gleichwohl erkenne er als Vertreter der Industrie Übereinstimmung mit dem Parteiprogramm der FPÖ. Dieses enthalte die „zentralen Themen für die Wirtschaft“, nämlich „keine neuen Steuern, Leistungsorientierung, Entlastungen“. Er finde es schade, würde man sich „die Zukunft verbauen“ aufgrund eines Streits um Ministerien, sowohl FPÖ als auch ÖVP beanspruchen das Innen- und das Finanzministerium für sich. Es ist einer dieser verhangenen Februartage, halb Wien ist erkältet. Knill spricht leise, manchmal versteht man ihn nicht, weil jemand in der Runde hustet.
Knill sitzt in einem Saal des Hauses der Industrie. Viel Stuck an den Wänden, eine Galerie von Ölgemälden zeigt alte Herren mit gestärkten Krägen. Es ist elf Uhr, die österreichischen Medien tickern bereits, dass die Verhandlungen zwischen ÖVP und FPÖ kurz vor dem Abbruch stehen. Die Öffentlichkeit hat zu diesem Zeitpunkt auch schon von dem Protokoll der Verhandlungen erfahren, 223 Seiten, auf denen die Parteien ihre Themen abgearbeitet haben, Verfassung, Justiz, Finanzen, Außenpolitik, Kultur, Medien, Sport, Landesverteidigung, Renten, Wirtschaft, Familie, Digitalisierung.
Strittig war etwa, ob Österreich Urteile des Europäischen Gerichtshofs anerkennt
Es ist ein Meer aus rot, gelb und grün markierten Textteilen. Die roten stehen dafür, dass man sich nicht einigen konnte. Darunter etwa die Frage, ob Österreich Urteile des Europäischen Gerichtshofs anerkennt und zu seiner historischen Verantwortung für die NS-Verbrechen steht. Was seit Jahrzehnten selbstverständlich ist, ist jetzt Verhandlungsmasse.
Gibt ihm das als Wirtschaftsvertreter nicht zu denken? Dass da jemand internationale Übereinkünfte und damit letztlich die Rechtssicherheit infrage stellt? Knill sagt, es müsse selbstverständlich eine proeuropäische Regierung geben. Aber Europa sei in den Verhandlungen „zuletzt kein offenes Thema“ mehr gewesen, „die Agenden wären zudem in ein ÖVP-geführtes Ministerium gewandert“. Die FPÖ habe sich in den Verhandlungen bewegt, „das wäre nicht mehr der Knackpunkt gewesen“. Die FPÖ, deren Anführer ein paar Stunden später vor der Presse sagen wird, er werde alles dafür tun, dass sich Österreich nicht der EU unterwerfen müsse. Man sei „kein Filialbetrieb einer Brüsseler Konzernzentrale“.
Ein hölzerner Paternoster rumpelt im Haus der Industrie auf und ab. Er passt zum Prachtbau aus der Gründerzeit, in dem die Industriellenvereinigung ihren Sitz hat. Man ist hier mitten im 19. Jahrhundert, als Wien Hauptstadt eines Reichs war, das so groß und mächtig war, dass man sich auf sich selbst konzentrieren konnte. Und nicht gern über die Grenzen blickte, in eine Welt, in der jetzt Donald Trump und Wladimir Putin über Europa hinweg die Geschicke des Kontinents verhandeln. In der Extremisten an Macht gewinnen und die demokratischen Institutionen unter Druck geraten. In der nicht zuletzt „österreichische Verhältnisse“ zum Synonym für eine politische Kultur wurde, die vom Rechtspopulismus aufgerieben wird.
Die ÖVP redet sich die FPÖ schön, findet Ferry Maier. Ausgetreten ist er schon lange
Bekommt das in der ÖVP niemand mit von denen, die mit Herbert Kickl verhandeln? Diese Frage stellte man in den vergangenen Wochen mehreren ÖVP-Politikern. Kaum jemand will etwas sagen. Nur der ÖVP-Bürgermeister der niederösterreichischen Stadt Tulln, Peter Eisenschenk, schreibt auf seiner Website unter dem Titel „Nicht mein Kanzler“, Herbert Kickl sei gegen die freien Medien sowie gegen die EU, dieses „wunderbare Friedensprojekt“ und „Grundlage des stetig gestiegenen Wohlstandes in Österreich“. Größere Reaktionen gibt es darauf nicht.
Ferry Maier glaubt, dass seine Partei sich die FPÖ schönrede. Maier war in den Neunzigerjahren Generalsekretär der Partei, drei Wochen vor dem Platzen der Verhandlungen sitzt er in einem Café im bürgerlichen Bezirk Wien-Döbling. Maier, 73, ist ein ÖVP-Mann der alten Schule, einer, der einem aus dem Mantel hilft und für die christlichen Werte der ÖVP steht. 2015 und 2016 war Maier für die damalige große Koalition „Regierungsbeauftragter für die Bereitstellung menschenwürdiger Unterbringung von Flüchtlingen“.

So sprach man in Österreich über Asyl, bevor Herbert Kickl 2017 unter dem ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz Innenminister wurde und Aufnahmestellen für Flüchtlinge in „Ausreisezentren“ umbenannte. Vor allem aber ist Maier einer, der nichts mehr zu verlieren hat, seine Parteimitgliedschaft hat er schon unter Sebastian Kurz gekündigt. Dessen Populismus macht Maier für den Verfall der ÖVP verantwortlich, die Partei sei ausgehöhlt und inhaltsleer geworden, nur mehr auf sich selbst und die eigenen Interessen fixiert.
Der ÖVP-Chef sagt: Es gibt viele Warnungen aus dem In- und Ausland
Omar Haijawi-Pirchners Job ist es, über Österreich hinauszublicken. Beziehungsweise auf die Gefahren, die Österreich von außen drohen. Er ist der Chef der Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst, also des österreichischen Geheimdiensts. Auch ihn trifft man in diesen fiebrigen Wochen, einen Tag, bevor Christian Stocker Mittwochnachmittag vor die Presse tritt und nach fünf Wochen endlich ausspricht, was längst allen klar ist: dass eine traditionelle konservative Partei keinen extrem Rechten zum Kanzler machen kann.
Stocker sagt, es sei ihm klar geworden, dass sich mit der FPÖ keine Einigung erzielen lasse. Unter anderem, weil die FPÖ darauf beharrte, den Innenminister zu stellen, in dessen Zuständigkeit auch der Geheimdienst fallen würde. Man habe, sagt Stocker, zahlreiche Warnungen aus dem In- und Ausland erhalten, dass in einem solchen Fall die Zusammenarbeit mit den befreundeten Nachrichtendiensten in Gefahr sei.
Haijawi-Pirchner weiß, was das bedeutet. Der frühere Polizist musste die Scherben zusammenkehren, die Herbert Kickl einst als Innenminister hinterlassen hatte. Damals haben Geheimdienstmitarbeiter offenbar geheime Informationen nach Russland weitergereicht, was ausländische Geheimdienste dazu veranlasste, Österreich vom Informationsfluss abzuschneiden. Die vergangenen Jahre hat Haijawi-Pirchner damit zugebracht, „viele Klinken zu putzen“ und das verlorene Vertrauen in die österreichischen Sicherheitsbehörden wiederzugewinnen.
Er sitzt ebenfalls in einem prachtvollen Gründerzeitgebäude, als Gast des Verbands der Auslandspresse, der hier sein Büro hat. Er will nicht fotografiert werden, spricht nur vertraulich. Die größten Herausforderungen, so viel darf er aber sagen, seien islamistischer Terror, Rechtsextremismus und Spionage. Haijawi-Pirchner geriet selbst in das Visier von Spionen. Ein bulgarischer Agentenring soll ihn in den vergangenen Jahren im Auftrag des früheren Wirecard-Chefs Jan Marsalek ausgespäht haben, die Informationen gingen offenbar nach Russland. Was ein Kanzler Kickl in einer solchen Gemengelage bedeuten würde, überlässt Haijawi-Pirchner der Fantasie seiner Zuhörerschaft.
Herbert Kickl selbst ist wenig zu sehen in diesen Wochen. Aus der ÖVP heißt es, er habe gerade mal sieben Stunden an den Verhandlungen teilgenommen. Kickl weist dies als „erstunken und erlogen“ zurück, seine Stimme klingt belegt. Kurz vor seinem größten Triumph hat er alles verloren. Es ist schwer zu sagen, ob er sich verzockt hat oder noch mal mit größerem Einsatz all in gehen will. Mittwochabend fordert er jedenfalls Neuwahlen, bittet die „lieben Österreicherinnen und Österreicher“, bei der nächsten Wahl „klare Verhältnisse zu schaffen“. Kickl ist schon im Wahlkampfmodus, es ist klar, dass er wiederkommen wird – und nicht als Fiebertraum.