Süddeutsche Zeitung

Österreich-Kolumne:"Schauen wir einmal"

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Die Politik in Österreich reagiert mit erstaunlichen Aussagen auf die Corona-Lage, die sich von Tag zu Tag zuspitzt. Sie sind Beweis für eine seit Langem bewährte Art mit Krisen umzugehen.

Von Verena Mayer

In Österreich schnellen die Corona-Zahlen gerade in einem nie da gewesenen Ausmaß in die Höhe, daran ändert bislang die seit Montag landesweit geltende 2-G-Regel nichts, die, Stichwort "Schnitzelpanik", helfen soll, die Impfquote zu steigern.

Den Rekord bei den Neuinfektionen halten aktuell die Bundesländer Salzburg und Oberösterreich, die Sieben-Tage-Inzidenz liegt jeweils bei etwa 1200. Die in Oberösterreich zuständige Gesundheitslandesrätin Christine Haberlander (ÖVP) gab dem Radiosender Ö1 dazu am Mittwoch ein bemerkenswertes Interview. Angesprochen auf die niedrige Impfquote und die angespannte Lage auf den Intensivstationen, sagte Haberlander mehrmals, man habe die Lage im Blick. Und: "Wir beobachten die Zahlen ganz genau."

Als Österreicherin fällt mir dazu natürlich gleich ein, welchen Stellenwert das Beobachten und Sehen in der österreichischen Kultur hat. In Österreich wird praktisch in jeder Lebenslage irgendwohin geschaut oder jemand schaut sich etwas an. Überrascht einen etwas, ruft man: "Da schau her!" oder "Schau dir das an!" Wer sich kümmert, schaut auf jemanden; wer etwas prüft, schaut sich das genau an; wer etwas anpackt, schaut, was geht. Ist eine Situation nicht mehr zu ändern, heißt es: "So schaut's aus."

Ich weiß nicht, warum in Österreich so intensiv geschaut wird. Vielleicht liegt es an der barock-katholischen Tradition des Landes, und man lässt sich die Dinge lieber vorführen, anstatt sich wie in den protestantisch geprägten Ländern in Schriften zu versenken. Vielleicht hat es auch mit einer gewissen Obrigkeitshörigkeit zu tun, und man sieht sich erst einmal alles in Ruhe an, bevor man etwas tut. Aber wie gesagt, das ist reine Spekulation. Fest steht jedoch, dass das Schauen in Österreich eine seit Langem bewährte Art ist, mit etwas umzugehen.

Wie die in Deutschland sozialisierte Tochter einen österreichischen Ausdruck dechiffriert

Kein Wunder, dass zu den vermutlich am meisten benutzten Sätzen des Österreichischen "Schauen wir einmal" gehört, je nach regionaler Färbung auch "Schau mer mal" oder "Schau ma amoi". Man verwendet ihn, wenn man um etwas gebeten wird, ein Angebot bekommt, eine Entscheidung treffen muss, mit einer Situation nichts anfangen kann. "Schauen wir einmal" lässt alles offen, gibt Luft zum Überlegen, ist unverbindlich, ohne unhöflich zu sein. Und es ist vor allem eine sehr österreichisch-indirekte Art, etwas auf die lange Bank zu schieben oder ganz abzulehnen. Oder wie meine in Deutschland sozialisierte Tochter einmal zu mir sagte: "Immer wenn du ,Schauen wir einmal' sagst, meinst du Nein."

Wenn nun in der Politik geschaut wird oder jemand wie die oberösterreichische Gesundheitspolitikerin die Lage "ganz genau beobachten" will, dann ist das auch nur eine andere Art, "Schauen wir einmal" zu sagen und zu hoffen, dass alles vielleicht gar nicht so schlimm wird oder sich von selbst erledigt. Kein gutes Zeichen also. Getoppt wird das nur noch, wie der Wiener Autor Daniel Glattauer in seinem Kolumnenband "Schauma mal" festgestellt hat, durch die in Österreich ebenfalls sehr geläufige Phrase: "Schauen wir einmal, dann werden wir schon sehen." Wenn dieser Satz fällt, kann man davon ausgehen, dass wirklich nichts passieren wird. Ich hoffe, dass wir ihn in der Corona-Politik nie hören werden.

In Oberösterreich scheinen die zuständigen Politiker in der Zwischenzeit den Ernst der Lange erkannt zu haben: Landeshauptmann Thomas Stelzer (ÖVP) hat für sein Bundesland einen "Lockdown für Ungeimpfte" angekündigt. Auch für Salzburg wurde diese neue Variante des Lockdowns beschlossen. Die weiteren Bundesländer sollen ebenfalls folgen. Schauen wir mal, ob diese Maßnahme tatsächlich die vierte Welle brechen wird.

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