Süddeutsche Zeitung

Österreich:Aufstand abgesagt

Mit der Asyl- und Flüchtlingspolitik ihres Koalitionspartners ÖVP sind die Grünen gar nicht einverstanden. Im Streit um Abschiebungen war nun sogar die Rede vom Bruch des Regierungsbündnisses. So weit wollte dann aber niemand gehen.

Von Cathrin Kahlweit, Wien

Die Explosion wurde vermieden, der Knall verhindert, aber die Gefahr bleibt - so etwa lässt sich, politisch gesehen, ein ereignisreicher Donnerstag in Österreichs Hauptstadt zusammenfassen. Noch am Mittwochabend hatte wegen der Asyl- und Flüchtlingspolitik, über die Grüne und ÖVP uneins sind, ein Ende der Regierungskoalition im Raum gestanden. Grüne Politiker hatten öffentlich festgestellt, die "Arbeitsweise der Koalition" stehe "total auf der Kippe", Spekulationen über fliegende Koalitionswechsel oder eine Expertenregierung machten die Runde.

Kurz vor einer Sondersitzung im Parlament, in der es eigentlich um die Corona-Demonstrationen vom vergangenen Wochenende gehen sollte und in der ÖVP-Innenminister Karl Nehammer zwei Misstrauensanträge überstehen musste, drehten die Grünen allerdings bei: Der Aufstand gegen den größeren Partner wurde abgesagt. Die Fraktionsvorsitzende, Sigrid Maurer, kündigte an, man werde nicht für Anträge von Neos und SPÖ zu einer humaneren Flüchtlingspolitik stimmen, da entsprechende Vorschläge der Opposition keine Chance auf eine Mehrheit hätten und die SPÖ nur "politisches Kleingeld wechseln" wolle.

Doch auch wenn zuvor ausgestoßene Drohungen teils eher taktischer Natur gewesen sein mögen, so wurde doch sehr deutlich: Die Regierung aus ÖVP und Grünen ist ein fragiles Gebilde; dass sie das Ende der Legislaturperiode erlebt, wird zunehmend unwahrscheinlicher. Auslöser und Kern des aktuellen Streits zwischen den Koalitionspartnern ist nämlich ein Dauerthema, das vergangene Woche zu einem konkreten Konflikt eskaliert war: die Abschiebung zweier gut integrierter Familien aus Armenien und Georgien, welche die Grünen als "unerträglich", die ÖVP jedoch als "unvermeidlich" bezeichnen.

Ändern könne man nur etwas, wenn man mitregiert, war am Ende die Losung

Der Innenminister argumentiert damit, dass die betroffenen Mütter mit ihren Kindern, die in Wien zur Schule gingen, trotz mehrmals abgelehnter Asylanträge nicht ausgereist seien, die Grünen pochten auf das Kindeswohl und forderten eine Ausweitung des Bleiberechts für junge Menschen, die gut integriert und teils sogar in Österreich geboren seien.

Die Grünen-Politikerin Maurer hatte noch am Dienstagabend im ORF kämpferisch betont, die Abschiebungen seien "unmenschlich", der Innenminister sei in der Verantwortung, es gebe einen "veritablen Konflikt" mit der ÖVP. Am Mittwoch hatten dann die Hauptstadt-Grünen in einer "Wiener Erklärung" mitgeteilt, Regieren sei kein Selbstzweck, die ÖVP müsse sich in der Frage des Bleiberechts und von Härtefallkommissionen bewegen. Wenn nicht, so die Kampfansage, dann könne die Koalition, die erst seit einem Jahr besteht und schon zuvor durch die ablehnende Haltung der ÖVP zur Aufnahme von Flüchtlingen aus Lesbos unter Druck geraten war, jetzt scheitern.

Aber nach einer offenbar lautstarken und heiß umkämpften Fraktionssitzung der Grünen am Abend vor der Sondersitzung wurde die Linie gewechselt. Man wolle einen Koalitionsbruch vermeiden, hieß es, denn nur in der Regierung könne man eine Änderung der Menschenrechts- und Flüchtlingspolitik erzwingen. Stattdessen kündigte Vizekanzler Werner Kogler am Nachmittag die Einrichtung einer "Kindeswohlkommission" unter Vorsitz der liberalen Juristin Irmgard Griss an.

Die Kommission werde analysieren, wie das Kindeswohl in politische Entscheidungen einfließen kann, und Entscheidungsträger mit Empfehlungen unterstützen. Maurer sagte zudem in einem Videostatement, man habe "viele Nachrichten" zu dem Thema bekommen; dass es vor allem kritische gewesen sein dürften, erwähnte sie nicht. In der Sache zerreiße es ihr das Herz. Aber um Gesetze gegen die ÖVP zu beschließen, hätten SPÖ, Neos und Grüne nun mal gemeinsam nicht genug Stimmen, ein Koalitionsbruch bliebe damit "wirkungslos". Zudem wolle man mitten in der Pandemie weiter die Verantwortung für die Gesundheits- und Wirtschaftspolitik tragen.

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