Ökumene:Was Kirche war, ist - und sein kann

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Die Kirche ist wahrlich nicht der Himmel. Doch ohne sie gäbe es keine Räume der Barmherzigkeit und des Vertrauens. Das macht sie so bedeutsam.

Heribert Prantl

Manchmal muss die Kirche wieder ausgegraben werden. Manchmal reicht es nicht, mit dem Putzeimer und dem Besen zu hantieren. Manchmal müssen Schuttberge weggekarrt werden, viele hundert Wagenladungen voller Schutt. Bei dieser Schaufelei, bei dieser Drecksarbeit entsteht dann, vielleicht, neue Gemeinschaft, bildet sich eine neue Gemeinde, ersteht, vielleicht, die Kirche neu.

Ein Kreuz wird während eines Wallfahrtsgottesdienstes unter freiem Himmel gesegnet. (Foto: Foto: AP)

Eine besonders große Ausgrabungsaktion, die vor bald fünfhundert Jahren stattgefunden hat, nennen wir die "Reformation". Es gibt auch kleinere Reformationen. Es gibt Aufräumarbeiten, die handfest weltlich sind und doch geistige Bedeutung haben. In der gotischen Kirchenruine Santa Maria dello Spasimo auf Sizilien zum Beispiel ist etwas Unerhörtes passiert: Dort hat sich, vor fünfzehn Jahren, Palermo selbst ausgegraben.

Bürger haben die Kirchenruine wieder begehbar und benutzbar gemacht. Aus einem Rattenloch wurde ein Zentrum der Kultur und der Begegnung - und ein Symbolort: Dieser steht für den Widerstand gegen die alten mafiösen Verhältnisse, für den Aufstand der Bürger gegen die Verwahrlosung des öffentlichen Raums und für die Wiedergeburt einer Stadt als Gemeinwesen.

Die renovierte Ruine in Palermo wurde zwar nicht wieder ein Gotteshaus, aber das war es ohnehin nur wenige Jahrzehnte in seiner fünfhundertjährigen Geschichte. Trotzdem ist der wieder ausgegrabene Ort ein religiöser Ort. Man lehnt dort an den gotischen Strebepfeilern und schaut in den Himmel. Der Bau hat nämlich kein Dach, er hat schon seit Jahrhunderten keines mehr und er hat auch bei der Renovierung keines bekommen.

Er ist wie eine radikale Vollendung der Gotik, eine Demonstration dessen, was Kirche sein soll: ein Ort, an dem der Himmel offen ist. Andererseits fühlt man sich, zumal in Ländern, in denen es viel regnet, ohne Dach nicht sehr zu Hause. Die Kirche muss also ein schützendes Dach haben, wenn sie nicht nur Schönwetter-Kirche sein will - und trotzdem soll sie ein Ort sein, der den Himmel offen hält.

Wie geht das? Und was ist Kirche? Kirche ist das, was es ohne sie nicht gäbe. Es gäbe keine Räume der großen Stille, der Meditation, des Innehaltens. Es gäbe keinen Raum, in dem Wörter wie Barmherzigkeit, Seligkeit, Nächstenliebe und Gnade ihren Platz haben, es gäbe keinen Raum, in dem noch von Cherubim und Serafim die Rede ist. Die Poesie der Psalmen hätte keine Heimat mehr. Es gäbe keinen Raum, in dem eine Verbindung da ist zu uralten Texten und Liedern - zu Liedern, die die Menschen schon vor Jahrhunderten gesungen, und zu Gebeten, die die Gläubigen schon vor Jahrtausenden gebetet haben. So aber ist Kirche ein Ort, der Zeit und Ewigkeit verbindet.

Ein Ort, an dem man weinen darf

Es ist gut, dass es einen Ort gibt, an dem gesagt wird, wer gestorben ist aus der Gemeinde, und wie alt er war; es ist gut, das zu hören, auch wenn man den Verstorbenen nicht gekannt hat. Es ist gut, dass es einen Ort gibt, an dem das Kreuz sein Zuhause hat. Ja, das Kreuz ist missbraucht worden, als Drohzeichen, als Mord- und Eroberungsinstrument. Trotz alledem: Es ist das gute Zeichen des Christentums. Ein Gott, der gelitten hat, der umgebracht wurde, der also weiß, was Leiden ist, bei dem ist das Leid der Menschen aufgehoben. Ohne Kirche gäbe es keinen öffentlichen Raum, in dem ein Mensch weinen kann, bei irgendeinem Lied, bei einer Fürbitte, die ihn anrührt.

Kirche ist das, was es ohne sie nicht gäbe. Es gäbe keine Kirchenglocken, keine Christmette, es gäbe keine Kirchenchöre, in denen der Handwerksmeister, die Lehrerin, der Versicherungsmakler und die Krankengymnastin nebeneinander stehen und Bachchoräle singen. Es gäbe den Blick nicht über die Dörfer mit den Kirchturmspitzen, es gäbe nicht die heiligen Haltestellen in den Großstädten der Alten und der Neuen Welt, die Kathedralen und Dome, die mehr sind als ein Erbe.

Es gäbe nicht die Orte der Kraft, die Maria Laach, Ebrach, Maulbronn, Corvey, Melk, Klosterneuburg, Zwettl oder Heiligenkreuz heißen. Die Klöster sind Orte, die heute noch weiter aus der Welt gefallen sind als je in ihrer Geschichte; die Klöster waren Hochburgen des Glaubens, der Weltflucht, der Askese, aber auch Keimzelle von Bildung, Wissenschaft und Kunst. Das alles sind sie nicht mehr, nicht mehr so jedenfalls, wie sie es einmal waren. Aber der Himmel kann dort immer noch offen sein - solange aus den Klöstern nicht Vier-Sterne-Hotels mit Wellnessoase werden.

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Früher sind auf dem Land die Menschen aufgefallen, die am Sonntag nicht regelmäßig in die Kirche gegangen sind. Heute fallen die auf, die regelmäßig in die Kirche gehen. Kirche ist nicht mehr unbedingt Volkskirche. Als die Sätze über die freundliche Trennung von Staat und Kirche, welche in der Praxis eher einem gordischen Miteinander gleicht, 1919 in die deutsche Verfassung geschrieben worden sind, war es die Kirche in Deutschland noch. Sie war es auch noch, als das Grundgesetz 1949 auf die Kirchenartikel der Weimarer Verfassung einfach Bezug nahm und sie so übernahm. Die Konkordate, die Konkordatslehrstühle an den Universitäten, die Staatsalimentation der Bischöfe, der staatliche Einzug der Kirchensteuer, die Militärseelsorgeämter - all das fußt auf diesen Artikeln.

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Seit 1949 und erst recht seit 1919 hat sich freilich die Kirche sehr verändert, ihre gesellschaftliche Bedeutung hat abgenommen; es gab und gibt so etwas wie den Rückzug der Gläubigen in die Sakristei, dort sammelt sich der heilige Rest. Der Limburger Altbischof Franz Kamphaus hat einmal gesagt: Die Kirche gleiche einem alten, abgemagerten Mann in viel zu großen Kleidern. Einmal hätten sie ihm wohl gepasst, aber jetzt hingen sie an ihm herunter und hinderten ihn am Gehen.

Das geltende deutsche Staatskirchenrecht gehört zu diesen Kleidern. Sie wurden der Kirche des frühen 20. Jahrhunderts auf den fülligen Leib geschneidert. Man kann sich also fragen, ob das geltende Staatskirchenrecht nicht unter volkskirchlichem Vorbehalt steht. Und wie lautet die Antwort? Jedenfalls können die Privilegien, die das Staatskirchenrecht den Kirchen verleiht, nicht die schwindende Lebenskraft und das schwindende Leben der christlichen Kirchen ersetzen.

Mehr als eine japanische Tee-Zeremonie

Aber: Dieses Leben ist natürlich nicht verschwunden, selbst im geschwundenen Zustand ist dieses Leben noch größer, vielfältiger und umfassender als in jedem anderen Verband. Sicherlich kann man Gemeinschaft auch anderswo erfahren, sicherlich gibt es Nächstenliebe auch in der Amnesty-Gruppe und im Hospizkreis; und Spiritualität kann einer auch in einer japanischen Tee-Zeremonie erleben. Aber dort fehlt das alles durchdringende Prinzip, das die Kirchen das Göttliche nennen.

Kirchen sind Räume; Kirchen sind Organisationen und Institutionen. Dort ist, immer noch, viel Leben, auch Leben in Gemeinschaft, religiöses und soziales Leben. Dort wird geholfen, geheilt, zugehört, dort wird gefeiert - dort wird auch intrigiert, übertrumpft, dort werden andere an die Wand gespielt, dort werden auch unheilige Interessen vertreten, dort wird Vertrauen missbraucht und verraten, dort wird gelogen, dort wird sexuelle Gewalt ausgeübt. Kirche ist fürwahr nicht der Himmel und die wenigsten ihrer Funktionäre sind Heilige. Sie kann aber, wenn es gutgeht, ein Ort sein, an dem der Himmel offen gehalten wird.

Früher hatten die Himmels-Offenhalter das Kennzeichen HH. Bei diesen zwei Buchstaben HH denkt heute jeder an die Hansestadt Hamburg. Das war früher einmal anders. Zumindest im katholischen Deutschland war H.H. so etwas wie ein Ehrenvorname und ein Ehrentitel eines Geistlichen. Jeder Kaplan, Pfarrer und Dekan war ein H.H., ein "Herr Hochwürden" - Hochwürden Herr Kaplan, Hochwürden Herr Pfarrer, Hochwürden Herr Dekan. So stand es auf den Briefen, die an einen Geistlichen adressiert waren, so stand es in den Lokalnachrichten der Zeitungen. Heute findet man das H.H. in den Todesanzeigen für Priester. Die Jungen kennen das Wort "Hochwürden" noch aus den Filmen mit Don Camillo.

Der Titel "Hochwürden" stammt aus der Zeit, in der die Würde des geistlichen Amtes den Herrn, der dieses Amt bekleidete, emporhob, heiligte und unantastbar machte - und zwar auch dann, wenn dieser Herr ein unangenehmer Mensch, ein grässlicher Sünder oder ein unwürdiger Widerling war - er galt trotzdem als Hochwürden. Diese Zeit ist vorbei.

Amt und Person

Spätestens seit den sogenannten Missbrauchsskandalen ist es sogar umgekehrt: Die Unwürdigkeit der Person erfasst das Amt, die Gemeinheit des Amtsträgers entehrt die katholische Kirche - erstens, weil es so viele Amtsträger sind, die als unwürdig entlarvt werden, zweitens, weil die Amtskirche so lange weggeschaut hat und drittens, weil lügnerische Figuren wie der zurückgetretene Augsburger Bischof Walter Mixa das Wort Hierarchie zu einem Synonym für Heuchelei machen. Und so sind zahllose untadelige, hochengagierte Seelsorger und Jugenderzieher unter Generalverdacht geraten. Und das ist nichts, was evangelische Christen klammheimlich freuen kann; denn dieser Generalverdacht infiziert alles Kirchliche.

Einstmals schob der gute Katholik, der über einen Pfarrer schimpfte, seiner Schimpferei einen einschränkenden Satz hinterher: "...die heilige Weihe ausgenommen". Das musste gesagt werden, weil man so deutlich machen konnte, dass trotz aller Empörung gegen den Pfarrer der Respekt vor seinem Amt und der Kirche blieb. Auch in Italien kann man diese Formel da und dort noch hören: "Salvo l'unto", sagt die gläubige Alte, "ausgenommen die Weihe".

Der Satz erinnert an die uralte Lehre von den zwei Körpern des Königs, die Ernst Kantorowicz in seinem berühmten gleichnamigen Werk geschildert hat: Sie schreibt dem König zwei Körper zu: erstens den natürlichen und damit sterblichen Körper, zweitens den übernatürlichen Körper, der, dem der Engel vergleichbar, niemals stirbt.

So wurde unterschieden zwischen dem Amt und der konkreten Person, die das Amt ausfüllt. Die konkrete Person konnte ein Kind oder ein Greis sein, todkrank oder debil - das Amt blieb davon unberührt. So war es in der Kirche auch: die Weihe, die Verfasstheit der Kirche, blieb von den Gebrechen unberührt. Das ist vorbei. Es hat ein Prozess der Entweihung der Hierarchie eingesetzt, den die katholische Kirche nur mit Demut beenden und wieder umkehren kann. Diese könnte ein Gewinn sein für die Ökumene; denn bisher hat der Hochmut der katholischen Kirche ein wirkliches Miteinander mit den lutherischen Kirchen verhindert.

Miteinander statt Spaltung

Die katholische Kirche steckt in der tiefsten Vertrauenskrise seit 500 Jahren, seit der Reformation. Wenn in dieser neuen Krise eine Chance steckt, dann die: die alte Spaltung, die fünfhundertjährige Spaltung zu überwinden. Es ist ja nicht simpel so, dass einfach ein Mönch aus Wittenberg die Kirche, die eine, heilige, gespalten hätte. Sie wurde gespalten auch von der Hybris des römischen Katholizismus, von ihrem dogmatischen Stolz und von ihrem feierlichen Anspruch, die einzig wahre Kirche zu sein. Bis heute lehrt der Vatikan, die evangelischen Kirchen seien überhaupt keine Kirchen im eigentlichen Sinn. Sie allein, die römisch-katholische Kirche, sei die eigentliche Kirche. Daraus wiederum leiten viele evangelische Christen ihr eigenes Profil und ihr Selbstverständnis, ihr Eigentliches ab: in der Anti-Papst-Haltung.

Und so rührt die Kirchenspaltung nach einem halben Jahrtausend daher, weil in der Konkurrenz der Kirchen der Blick auf das wirklich Eigentliche verlorengegangen ist: Die Kirche ist der Ort, an dem der Himmel offen ist - nicht nur für die, die sich in der angeblich richtigen und wahren Kirche wähnen, sondern für alle, die an Gott glauben, und für alle, denen der offene Himmel lebenswichtig ist.

© SZ vom 12.05.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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