Süddeutsche Zeitung

Ökonomie-Theorie:Parabel vom Bruchpiloten

Amel Karboul präsentiert ihre Idee vom zyklischen Wirtschaften in der globalen Welt. Ihre Überzeugung: Man darf Potenziale nicht mehr ausreizen bis zum "Gehtnichtmehr" - die Gefahr abzustürzen ist damit zu groß.

Von Wolfgang Freund

Das Bild der Coffin Corner (Sargecke) stammt aus der Flugzeugwelt. Je höher eine Maschine steigen will, desto schneller muss sie fliegen. Nur so kann die dünner werdende Luft den flugnotwendigen Auftrieb unter den Tragflächen noch liefern. Ist die Geschwindigkeit hingegen nicht hoch genug für die dünn gewordene Luft, stürzt die Maschine ab. Sie ist dann, wie es im Englisch der Piloten heißt, in die Coffin Corner, die Sargecke, geraten. Selbst der erfahrenste Pilot kann dann nichts mehr tun. Mit dieser Luftparabel führt die Autorin, den Leser an ihr Thema heran.

Amel Karboul ist eine in Karlsruhe ausgebildete Diplomingenieurin für Maschinenbau und besitzt einen angelsächsischen ökonomischen Doktorgrad. Darüber hinaus war sie schon einmal Ministerin (für Tourismus) in ihrem Heimatland Tunesien (Januar 2014 bis Februar 2015). Den Trend zum Deutschen hin mag sie jedoch bereits von ihrem Vater geerbt haben: Mohamed Karboul, Absolvent der Universität zu Köln, war später mehrere Jahre tunesischer Botschafter in Bonn.

Die Fehlplanung geschieht innerhalb soziokulturell angelernter Verhaltensweisen

Der Bruchpilot nun ist in die ausweglose Lage geraten, weil er falsch gedacht, falsch geplant hat. Er dachte "linear", gemäß der am Schienenstrang entlangführenden "Railway"-Logik, wie die Briten sagen, anstatt kreisförmig, "zyklisch". Amel Karbouls Überzeugung: Man darf Potenziale nicht mehr ausreizen bis zum "Gehtnichtmehr". Die Gefahr, damit abzustürzen, ist in unserer komplex gewordenen Welt, wo es keine wirklichen Zentren mehr gibt, zu groß geworden.

Das Gleichnis trifft kleine Firmen, große Firmen, Vereinigungen, Staaten, Staatengruppen. Ideologische Orientierungen ("links" oder "rechts") spielen keine Rolle, es geht ums Prinzip. Die Fehlplanung geschieht innerhalb soziokulturell angelernter Verhaltensweisen. Wir denken und handeln "linear", bewegen uns geradeaus, weder nach links noch rechts schauend, weil wir so erzogen sind, verzogen wurden.

Wir funktionieren, in unseren Befehls- und Gehorsamsrhythmen, fast immer vertikal, von oben nach unten sowie von unten nach oben, doch höchst selten horizontal, auf gleicher Ebene, im Direktdialog von einer Abteilung in die andere, von Menschen auf Augenhöhe zueinander. Gehorcht wird immer dem Vorgesetzten weiter oben im Pyramidalsystem, und so kommt es, dass der kleine Sachbearbeiter die Unterschriften der gesamten hierarchischen Kette bis hin zum amtierenden Wirtschaftsminister benötigt, wenn er, sagen wir es karikierend zugespitzt, sein Büromaterial um drei neue Kugelschreiber anreichern möchte. Initiativen werden erst dann umgesetzt, wenn alle absegnenden Paraphen bis in die höchsten Unternehmens- oder Staatsspitzen hinein vorliegen. Solches Missmanagement geschieht im ganz Großen wie im ganz Kleinen.

Diese autoritäre Vorgehensweise war das Erfolgsrezept in der bisherigen para-totalitären Wirtschaftsführung. Wie auch in der Politik und bei den den Globus umspannenden internationalen Beziehungen, die längst Vernetzungen geworden sind, selbst zwischen Ländern wie Nordkorea und den USA. Deshalb greifen die alten Methoden nicht mehr im Global Village, wo noch der letzte australische Eingeborene die News von einem New Yorker Börsenkrach oder dem Ausbruch einer dritten Intifada dank Internet genau so rasch erfährt wie der Chef einer europäischen Großbank oder der israelische Premierminister.

Amel Karboul hat im Hinterkopf noch ein anderes Problem, dem sie mit ihrem antilinearen, zyklischen Ansatz beikommen möchte. Sie streift es gerade mal mit einem Satz auf einer ihrer letzten Buchseiten: den israelisch-arabischen Konflikt in seiner "linearen" Dauer, Verkettung und Verhärtung, heute einer Befriedung ferner stehend als je zuvor. Kein Wunder. Schließlich ist sie eine tunesische Ex-Ministerin und als solche diesem Schlamassel um ein Vielfaches näherstehend als Vertreter(innen) anderer Mittelmeer- oder Euro-Länder.

Das Buch ist in lebendigem, unterhaltsamem Deutsch geschrieben. Die Lektüre belehrt und bereitet Vergnügen. Ab und zu übertreibt die Autorin mit englischen Wortschlenkern, wohl damit dokumentieren wollend, dass sie heute ein internationales Coaching-Unternehmen von London aus betreibt. Ständig im Flugzeug. Bosse aus allen vier Himmelsrichtungen suchen offenbar ihren Rat.

Aber was ist mit der alten Weisheit, wonach sich 50 Prozent aller Probleme stets von alleine lösen? Dieser Gedanke vielleicht auch als Enthusiasmusdämpfer in die Checkliste der ansonsten ungemein anregenden Autorin.

Wolfgang Freund ist deutsch-französischer Sozialwissenschaftler (Schwerpunkt "Mittelmeerkulturen"). Zahlreiche Publikationen auf Deutsch, Französisch und Englisch. Lebt heute in Südfrankreich.

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SZ vom 25.04.2016
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