Süddeutsche Zeitung

Öffentlicher Dienst:"Streiks sind auch jetzt möglich"

Soll es für "Corona-Helden" wie Krankenschwestern und Müllwerker mehr Geld geben - trotz Wirtschaftskrise? Verdi-Chef Frank Werneke erklärt, wie er die Interessen der Beschäftigten vertritt.

Interview von Benedikt Peters

SZ: Herr Werneke, mit welcher Erwartung gehen Sie in die zweite Verhandlungsrunde mit den Arbeitgebern?

Frank Werneke: Ich hoffe, wir erzielen an diesem Wochenende substanzielle Fortschritte. Das setzt voraus, dass die Arbeitgeber in der Lage sind, ein respektables Angebot zu machen. In den letzten Jahren gab es die Unsitte, in der zweiten Runde keines zu unterbreiten. Das wäre nicht konstruktiv.

Was wäre denn ein respektables Angebot?

Wir verlangen 4,8 Prozent mehr Lohn für die Beschäftigten. Aber die fast noch wichtigere Forderung ist, die Entgelte der Menschen mit relativ niedrigen Einkommen um mindestens 150 Euro zu erhöhen. Wir wollen einen besonderen Schwerpunkt darauf legen, dass sie auf jeden Fall gut berücksichtigt werden. Das gilt zum Beispiel für die Beschäftigten in der Abfallwirtschaft, die in der Pandemie besonders gefordert waren. Wir wollen im Gesundheitswesen, insbesondere in der Pflege, erkennbare Verbesserungen durchsetzen. Drittens müssen wir die Arbeitszeit der Beschäftigten in Ostdeutschland an die westdeutschen Regeln angleichen, die Beschäftigten in den ostdeutschen Kommunen arbeiten 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch immer länger. Das ist nicht akzeptabel.

Die Corona-Pandemie hat Deutschland in eine Rezession gestürzt, Steuereinnahmen sind eingebrochen. Ist das der Zeitpunkt für eine kräftige Lohnerhöhung?

Wenn es nach den Arbeitgebern geht, gibt es nie einen richtigen Zeitpunkt für Gehaltserhöhungen. Es gibt auch Probleme, die nichts mit Corona zu tun haben, etwa in Kommunen in strukturschwachen Regionen, im Saarland oder in Nordrhein-Westfalen. Wir hatten übrigens angeboten, die Tarifrunde um ein halbes Jahr zu verschieben - mit Rücksicht auf die Pandemie und das Infektionsgeschehen. Das ist aber von den kommunalen Arbeitgebern abgelehnt worden.

Die Arbeitgeber argumentieren so: Sie mussten die Verschiebung ablehnen, weil die Gewerkschaften zusätzlich eine Einmalzahlung gefordert hatten, 1500 Euro für jeden. Das sei viel zu viel gewesen.

Das ist aus meiner Sicht vorgeschoben. Die Arbeitgeber haben nicht eine Minute über die Höhe der Einmalzahlung verhandelt. Ich glaube vielmehr, dass sie sich durch die Pandemie eine stärkere Verhandlungsposition erhoffen, etwa, weil sie denken, dass Streiks unter diesen Bedingungen schwieriger durchzuführen sind. Aus meiner Sicht ist das Taktiererei zulasten der Bevölkerung und der Beschäftigten.

Den historisch großen wirtschaftlichen Einbruch hat es aber ja nun mal gegeben.

Wir sehen diese besondere Situation natürlich. Deshalb haben wir ja auch nicht sechs oder sieben, sondern nur 4,8 Prozent gefordert. Es stimmt aber nicht, dass es keine Spielräume für Lohnerhöhungen gäbe. Die Steuerschätzung vom 10. September hat gezeigt, dass die Kommunen schon 2022 wirtschaftlich gesehen wieder auf Vorkrisenniveau sein werden. In diesem Jahr erstattet der Bund den Städten und Kreisen außerdem die Ausfälle der Gewerbesteuer. Im Moment spricht viel dafür, dass sich die Wirtschaft schneller erholt, als noch vor wenigen Monaten erwartet wurde.

Jobs im öffentlichen Dienst gelten als krisenfester als die der Privatwirtschaft. Das führen auch die Arbeitgeber an: Statt höhere Löhne zu fordern, sollten sich die Beschäftigten mit ihrem sicheren Arbeitsplatz zufriedengeben.

Es stimmt, dass die Hürden für eine Kündigung aus wirtschaftlichen Gründen im öffentlichen Dienst höher sind als in der Privatwirtschaft. Aber wir haben auch einen sehr hohen Anteil an befristeten Arbeitsverhältnissen, das betrifft jede zweite Neueinstellung. Da ist überhaupt keine Jobsicherheit gegeben.

Was bedeutet die Pandemie für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst?

Die Menschen im öffentlichen Dienst haben während der Pandemie volle Leistung gebracht. Sie waren zum Teil persönlichen Risiken ausgesetzt, etwa im Gesundheitswesen. Aber auch viele andere haben voll durchgearbeitet: In den Altenpflege-Einrichtungen ging der Betrieb unter erschwerten Bedingungen weiter, obwohl Schutzkleidung fehlte. Die Beschäftigten in den Jobcentern waren total dicht mit der Bearbeitung der Anträge zur Kurzarbeit. In den Sparkassen ging es darum, die Liquidität kleiner Betriebe zu sichern. Wir haben die höchsten Abfallmengen seit langer Zeit, weil durch die Corona-Auflagen sehr viel Plastikmüll entstanden ist. Dass Deutschland bisher gut durch die Pandemie gekommen ist, hat viel damit zu tun, dass es einen so leistungsfähigen öffentlichen Dienst gibt und auch ein so großes Engagement der Beschäftigten.

Neben denen, die voll durchgearbeitet haben, gibt es jene, die froh sind, wenn sie ihren Job behalten. Flughäfen etwa stecken wegen Corona in einer schweren Krise. Wie schwer ist zu verhandeln, wenn das Feld der Leute so heterogen ist?

Wir sehen die Unterschiede. Deshalb gibt es ja zum Beispiel einen eigenen Verhandlungstisch für Gesundheit und Pflege bei den TVöD-Verhandlungen. Das wichtigste Thema dort wird eine eigene finanzielle Würdigung der Arbeit der Beschäftigten sein. Konkret könnte dies durch eine Pflege-Zulage geschehen, wie wir sie im letzten Jahr für die Beschäftigten der Unikliniken durchgesetzt haben. Das wäre ein erprobter Ansatz, um die besondere Leistung und Verantwortung im Gesundheitswesen zu honorieren. Es stimmt auch, dass die Flughäfen derzeit in einer wirtschaftlich schwierigen Lage sind. Wir führen deshalb dort auch besondere Verhandlungen zur Sicherung der Arbeitsplätze. Dabei geht es auch um Beiträge der Beschäftigten. Wir brauchen in dieser Tarifrunde ein Gesamtpaket für den öffentlichen Dienst - das dann aber unterschiedliche Situationen widerspiegelt, im Gesundheitswesen, für Beschäftigte mit relativ niedrigen Einkommensgruppen und vermutlich auch für die Flughäfen.

Könnte es Streiks geben, wenn Sie sich nicht einigen? Es wurde bereits viel diskutiert, ob man unter Pandemie-Bedingungen überhaupt streiken kann - in Krankenhäusern etwa oder in Kitas, die schon Wochen und Monate geschlossen waren. Der Gesundheitsschutz hat oberste Priorität, sowohl für die Beschäftigten als auch für die Bevölkerung insgesamt. Aber grundsätzlich sind Streiks auch jetzt möglich. Wir zeigen das seit zwei Wochen bei der Deutschen Post mit einer sehr hohen Beteiligung an den Arbeitskampfmaßnahmen. Wir verzichten dort auf große Kundgebungen und streiken mit Abstand. Wenn das notwendig werden sollte, werden wir mit der gleichen Umsicht selbstverständlich auch in anderen Tarifverhandlungen agieren, auch im öffentlichen Dienst.

Sie halten also Streiks in Krankenhäusern oder Kitas diesen Herbst für vertretbar?

Vertretbar sind Streiks grundsätzlich in allen Bereichen, denn wir müssen die Interessen aller Beschäftigten durchsetzen. Es gelten besondere Regelungen für Krankenhäuser, nicht nur während der Corona-Pandemie. Die Grundversorgung und Notdienste sind immer sichergestellt. Dass Streiks im Sozial- und Erziehungsdienst auch eine besondere Herausforderung darstellen, das wissen wir. Falls wir zu Arbeitskampfmaßnahmen aufrufen müssen, werden wir das so verantwortungsvoll tun, wie es in dieser Zeit notwendig ist. Das haben am Wochenende letztlich die Arbeitgeber mit ihrem Verhalten in der Hand. Deshalb werde ich jetzt nichts ausschließen.

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Quelle:
SZ vom 18.09.2020/bix
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