Als Einwanderungsland ist Deutschland beliebter als Kanada, Australien und die Schweiz und beinahe so beliebt wie die USA. Mit 1,2 Millionen Migranten im Jahr 2016 sind die Vereinigten Staaten Spitzenreiter. Nach Deutschland wanderten 1,051 Millionen Menschen zu, damit wurde zum ersten Mal die Millionenmarke geknackt.
Die wohl größte Überraschung bei den Zahlen für Deutschland ist: Die Mehrheit - mehr als 600 000 Zuwanderer - fragte nicht nach Asyl, sondern nach Arbeit. Sie sind nicht Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak, sondern Arbeitsmigranten aus Europa, die meisten kommen aus Rumänien, Polen und Bulgarien. Das eigentliche Top-Thema der Gegenwart ist also die Arbeitsmarktintegration, nicht die Abschottung gegen Flüchtlinge. Der globale Trend heißt: Die Menschen ziehen dorthin, wo Arbeit ist.
Allerdings sind Arbeitsmigranten in der öffentlichen Wahrnehmung viel weniger präsent. Oft haben sie bereits eine Wohnung, eine Familie, einen Job zu dem sie ziehen, folglich "unproblematisch", deshalb nicht Thema der öffentlichen Debatte. Das hat der Ökonom und OECD-Experte Thomas Liebig am heutigen Weltflüchtlingstag klar gemacht. Er stellte den "Internationalen Migrationsausblick 2018" der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Berlin vor. Der OECD gehören die 35 weltweit am stärksten entwickelten Industrie- und Schwellenländer mit einer Gesamtbevölkerung von 1,3 Milliarde Menschen an.
Die Studie stellt die Trends der internationalen Migration vor. Dabei unterscheidet sie zwischen Flüchtlingen und Zuwanderern und gibt Antwort auf die Frage, welche Auswirkungen die Migration schon heute auf den Arbeitsmarkt hat: Demnach ist die Nachfrage nach Arbeitskräften auf allen Qualifikationsniveaus in den OECD-Ländern so groß wie nie zuvor. 4,2 Millionen ausländische Arbeitskräfte lebten 2017 dauerhaft, temporär oder als Saisonarbeiter in den 35 OECD-Ländern. Im Vergleich zum Vorjahr ist das ein Plus von elf Prozent und der größte je gemessene Wert.
OECD-Studie:Deutsche Arbeitnehmer zahlen besonders hohe Steuern und Abgaben
Vor allem für kinderlose Singles ist die Belastung hoch. Hinzu kommt: Der Anteil deutscher Arbeitgeber an den Sozialabgaben ist im weltweiten Vergleich besonders gering.
Die Arbeitslosigkeit von Migranten insgesamt sank dem Bericht zufolge, der sich auf die beiden vergangenen Jahre bezieht, um einen Prozentpunkt auf 9,5 Prozent oder anders: die Beschäftigung stieg um einen Punkt auf 67,1 Prozent. Besonders stark war der Anstieg bei den zugewanderten Frauen, nämlich um genau elf Prozent - ein Höchststand.
In den USA werden die meisten Asylanträge gestellt
Bei den Asylanträgen haben die USA Deutschland als das Land mit den meisten abgelöst, fast 330 000 neue Anträge gab es 2017 in den Vereinigten Staaten. Das sind fast 70 000 mehr als noch im Jahr zuvor. In Deutschland sank die Zahl rapide, von über 700 000 im Jahr 2016 auf zuletzt etwa 198 000 neue Asylanträge. Gemessen an der Gesamtbevölkerung liegt Deutschland in Europa auf Platz fünf, hinter Griechenland, Luxemburg, Island und Österreich.
Dabei hätten insbesondere "Informationskampagnen sehr viel gebracht", sagt Experte Thomas Liebig. Einwanderern aus dem Westbalkan, besonders aus Albanien, sei klargemacht worden, dass sie hierzulande nicht automatisch einen Job bekämen. Auch Menschen aus ferneren Ländern wie Afghanistan, die keine Aussicht auf einen Schutzstatus haben, sind nach Liebigs Einschätzung davon abgebracht worden, sich auf den Weg zu machen.
6,4 Millionen Flüchtlinge sind es insgesamt, die derzeit in den OECD-Ländern leben, mehr als die Hälfte davon allein in der Türkei. Die Zahl der Flüchtlinge mit Ziel Europa hält Liebig für "absolut beherrschbar", trotz der jüngst veröffentlichten Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, nach denen 2017 ein Rekord-Fluchtjahr war, mit weltweit 68,5 Millionen Vertriebenen durch Krisen und Konflikte. Denn den Sprung nach Europa schafften "nur diejenigen mit mehr Ressourcen, die Jungen, die Stärkeren", so Liebig. Die meisten Flüchtenden suchten Schutz in den direkten Nachbarländern.
Dementsprechend geht die Zahl der neu registrierten Asylanträge in den OECD-Ländern zurück, sie sank vom 2016er-Rekordwert von 1,6 Millionen auf zuletzt 1,2 Millionen. Für die Hälfte des Rückgangs sei Europas sowie vor allem Deutschlands verschärfte Asylpolitik verantwortlich, so Liebig. In die andere Richtung deutet hingegen der Trend in den USA (plus 26 Prozent), Australien (29 Prozent) und Kanada (112 Prozent). In Kanada hätten viele Menschen einen Asylantrag gestellt, "die 2017 keine Zukunft in den USA für sich mehr gesehen hätten", so Liebig.
Eine Ausbildung zu machen, sich weiterzubilden und besonders: eine neue Sprache zu lernen, das braucht Zeit. Dennoch werde der Einfluss der Flüchtlingsmigration auf den Arbeitsmarkt eine große Rolle spielen. In Deutschland und Österreich wird derzeit gerade einmal ein Prozent des gesamten Arbeitskräftepotenzials genutzt. Das von jungen, niedrigqualifizierten Männern genutzte Potenzial liegt aber laut der Studie schon bei 15 Prozent. Ökonom Liebig sagt: Um Konkurrenz und Lohndruck zu vermeiden, müsse die Politik besonders im Niedrigqualifikationsbereich " verstärkt Maßnahmen zur Weiterqualifizierung und Fortbildung fördern - unabhängig von der Herkunft".
Der Ökonom empfiehlt, sich auf die mittlere Qualifizierung, die Anerkennung von Abschlüssen zu konzentrieren. Und ganz besonders: Viel mehr Gewicht als bisher auf die deutsche Sprache zu legen. Lieber formal ein bisschen weniger fachlich qualifiziert und dafür ein besseres Deutsch. Allzu mangelhaftes Deutsch sei das Hauptproblem, warum Integration am Arbeitsplatz scheitere.
Alles andere als gescheitert sei Polen, das sich vom "Auswanderungs- zum Zuwanderungsland entwickelt" habe. Im Vergleich zu 2016 verließen 2017 15 Prozent weniger Polen ihr Land. Ökonom Liebig sagt, dass es das wichtigste Empfangsland für temporäre Arbeitsmigration geworden sei, noch vor den USA, Deutschland und Australien.
Dafür verantwortlich sind laut Liebig drei Faktoren: eine sehr positive Arbeitsmarktentwicklung (50 Prozent weniger Arbeitslose, eine gefallene Quote von 11 auf unter fünf Prozent), die Krise im Nachbarland Ukraine und die gleiche demografische Entwicklung wie in Deutschland: Polen altert ähnlich stark und schnell, Pflegekräfte werden auch dort gebraucht. Die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter werde dem Bericht zufolge in allen OECD-Ländern bis 2020 nur um 0,4 Prozent zunehmen.