Jesse Wright ist ein kerniger, breiter Bursche Ende dreißig. Er hat Spengler gelernt und arbeitet in Ohio als Funktionär für eine Metallgewerkschaft. Wright fährt einen Pick-up von Ford und eine Harley. Er hat ein sehr lautes Hobby: Er sammelt alte Dampfpfeifen.
Jesse Wright war immer schon Demokrat, weil die Demokraten für ihn die Partei der Arbeiter und der kleinen Leute sind. Das ist ihm wichtig. Ansonsten ist er nicht besonders links. Wahlforscher würden Wright in die Kategorie white working class einordnen - ein weißer Arbeiter aus der Mittelschicht, eher der unteren als der oberen. Aber wenn man Wright fragt, wer ihm bei den Demokraten derzeit am besten gefällt, muss er nicht lange nachdenken: "Ich mag diese Cortez", sagt er.
USA:Kommt nur her
Sie ist eloquent, links und kann tanzen. Das ist für Republikaner kaum auszuhalten. Für manche Demokraten auch nicht. Vom Aufstieg der Alexandria Ocasio-Cortez.
"Diese Cortez" ist Alexandria Ocasio-Cortez, eine 29 Jahre alte, dezidiert linksliberale demokratische Abgeordnete aus New York, deren Familie aus Puerto Rico stammt. Ihr Wahlkreis umfasst Teile von Queens und der Bronx, arme Stadtteile, in denen viele Schwarze, Lateinamerikaner und Einwanderer aus aller Welt leben. Von Jesse Wright, so könnte man meinen, ist Alexandria Ocasio-Cortez so weit weg wie vom Mond.
Rechte Medien arbeiten sich wie besessen an Ocasio-Cortez ab
Aber das stimmt nicht. Die Demokraten machen derzeit mit einem Phänomen Bekanntschaft, das die Republikaner - wenn auch mit weit größerer Wucht - vor einigen Jahren erlebt haben: Ein Neuling mischt die Partei auf, das Establishment ist pikiert, aber die Basis ist begeistert. Wie sehr, zeigte kürzlich eine Umfrage: 74 Prozent aller Demokraten könnten sich demnach vorstellen, für Alexandria Ocasio-Cortez zu stimmen, sollte sie Präsidentschaftskandidatin werden. Das ist für AOC, wie sie genannt wird, jetzt noch nicht möglich, laut Verfassung muss der Präsident mindestens 35 Jahre alt sein. Aber es zeigt, wie viel politisches Potenzial in der jungen Parlamentarierin steckt, die noch keinen Monat im Amt ist.
Bei den Republikanern hieß der Aufmischer damals Donald Trump. Das mag auf den ersten Blick ein unfairer Vergleich sein. Und tatsächlich haben Trump und AOC, der reiche, rechtspopulistische weiße Mann und die Einwanderertochter, die ihr Geld als Kellnerin verdiente und sich selbst als "demokratische Sozialistin" bezeichnet, äußerlich und inhaltlich nichts gemein. Mehr noch: Ocasio-Cortez' Wahlsieg war eine direkte Folge der Verachtung, die viele Menschen in den USA gegenüber Trump verspüren.
Doch auf ihre Anhänger und auf ihre Gegner wirken beide durchaus ähnlich. Das sieht man zum Beispiel an der bissigen Besessenheit, mit der rechte Medien sich an AOC abarbeiten. Das erinnert sehr an die Aufregung, die Trump mit seinen gezielten Provokationen im linken Lager immer noch nach Belieben auslösen kann. Und so, wie einst die Trump-Verteidiger ihren Kandidaten mit dem Argument verteidigten, man müsste dessen Äußerungen nicht immer wörtlich nehmen, machen es heute die AOC-Anhänger.
Politische Botschaften im "Donkey Kong"-Livestream
Auch in der Missachtung traditioneller politischer Regeln ähneln sich Trump und Ocasio-Cortez zuweilen. Der Immobilienkaufmann Trump hat die Republikanische Partei praktisch geentert, vor seiner Präsidentschaftskandidatur hatte er nie ein Parteiamt inne. AOC sitzt für die Demokraten im Parlament, weil sie in der parteiinternen Vorwahl den altgedienten demokratischen Abgeordneten aus ihrem Wahlkreis besiegte. Entsprechend misstrauisch ist das Parteiestablishment in beiden Fällen. Viele Republikaner in Washington halten Trump immer noch für einen Usurpator, auch wenn sie sich ihm beugen. Etliche Demokraten sind der Meinung, AOC habe sich auf einen Parlamentssitz gedrängelt, der ihr nicht gehörte.
Was Trump und AOC eint, ist, dass ihnen derartiges Gemeckere ziemlich egal ist. Beide wissen genau, wie beliebt sie an der Parteibasis sind - deutlich beliebter jedenfalls als die grauen Parteifunktionäre aus Washington. Aus dieser Verbindung zum einfachen Fußvolk der Partei, die zuweilen eher gefühls- als vernunftgesteuert zu sein scheint, ziehen Trump und AOC ihre Macht. Und beide kommunizieren direkt mit ihren Fans an der Basis.
Trump macht das vor allem über Twitter und einige ihm hörige Moderatoren beim Sender Fox News; auch AOC twittert viel, ihr Instagram-Auftritt ist spektakulär gut. Vor einigen Tagen war sie an einem Ort unterwegs, von dem die meisten Altvorderen der Demokraten oder ein Metallarbeiter wie Jesse Wright vermutlich nicht einmal wissen, dass es ihn gibt: Auf der Internetplattform Twitch schaltete sie sich bei einem "Donkey Kong 64"-Livestream des Youtubers Hbomberguy zu und warb für die Rechte transsexueller Jugendlicher. Das Netz, zumindest jener Teil, der AOC toll findet, war begeistert.
Die Position der Demokraten nach links verschoben
Trump und Ocasio-Cortez profitieren von einem Trend, den es in Amerika schon seit Längerem gibt: In den Augen der Wähler sind messbare Dinge wie Wissen, Erfahrung und Kompetenz bei einem Politiker inzwischen weniger wichtig als eine eher vage definierte "Authentizität". Auch viele Trump-Wähler wissen ja, dass der Präsident ein lügender Angeber ist. Aber sie halten zu ihm, weil sie das Gefühl haben, er sei eben so, wie er sei, und sage offen, was Sache ist. Jesse Wright kennt dieses Phänomen. Viele seiner Gewerkschaftsfreunde, die in der Vergangenheit für die Demokraten gestimmt haben, sind bei der Wahl 2016 deswegen zu Trump übergelaufen. Und sie halten deswegen weiter zu ihm.
Das gilt in ähnlicher Weise für AOC. Sie lügt zwar nicht wie Trump. Aber auch Ocasio-Cortez ist, was Fakten angeht, manchmal nicht ganz sattelfest. Oder sie übertreibt. Doch ihre Anhänger erschüttert das nicht. Sie suchen, genau wie Trumps Wähler, lieber Argumente, um zu beweisen, dass ihr Idol in Wahrheit doch recht hat und die anderen die Lügner sind.
Und noch etwas verbindet Trump und Ocasio-Cortez: Beide haben den Kanon der politischen Positionen, die in ihrer Partei als akzeptabel und richtig angesehen werden, deutlich verschoben - Trump nach rechts, AOC nach links. So wie die Republikaner unter Trump zu einer nationalistischen, isolationistischen, xenophoben Partei geworden sind, reden die Demokraten plötzlich ernsthaft über linksliberale Wunschprojekte, die AOC recht nonchalant in die Debatte geworfen hat: einen Spitzensteuersatz von 70 Prozent, die Abschaffung der Grenzschutzbehörde ICE, eine radikale grüne Energiewende.
Dabei fällt unter den Tisch, dass die Demokraten ihre neue Mehrheit im Abgeordnetenhaus in Wahrheit nicht Politikerinnen wie AOC, sondern eher moderaten, zuweilen sogar konservativen Mitte-Kandidaten verdanken, die wenig twittern, bei der Wahl im November aber Republikaner geschlagen haben. Doch wie diese Sieger heißen, weiß heute niemand mehr.