Nuklearexperte Sailer zur Atomkraft:"Wir sind auf der Intensivstation"

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Der Strom in Deutschland wird nicht knapp und trotzdem kommt immer mehr aus dem Ausland: Der Reaktorexperte Michael Sailer über die Katastrophe in Fukushima, die Überprüfung deutscher Kernkraftwerke und wachsende Stromimporte.

Michael Bauchmüller

Michael Sailer, 57, Chef des Öko-Instituts und Mitglied der Reaktorsicherheitskommission (RSK), fordert eine neue Bewertung der Kernkraft. Die Diskussion in Deutschland sei lange überfällig gewesen. Am Krisenreaktor in Fukushima sei die Frage nur noch, "ob es schlimmer wird oder gleich schlimm bleibt".

Insgesamt neun deutsche Atomkraftwerke sind derzeit abgeschaltet, darunter auch der Meiler im hessischen Biblis. (Foto: dpa)

SZ: Herr Sailer, in Fukushima lässt sich ein Leck kaum stopfen, die Umgebung des Reaktors wird mit Kunstharz besprüht. Das wirkt ziemlich verzweifelt. Ist alles außer Kontrolle?

Sailer: Die Anlage ist seit dem Erdbeben, seit dem 11. März, außer Kontrolle. Was da geschieht, sind Versuche, die Kühlung hinzubekommen und die Freisetzung von Radioaktivität möglichst klein zu halten. Von Kontrolle kann man da wirklich nicht mehr sprechen.

SZ: Gibt es noch ein Szenario, nach dem man irgendwann wird sagen können: ist noch glimpflich abgegangen?

Sailer: Wenn man im Herbst sagen kann, es ist nicht mehr passiert als bisher, als die bisherigen Freisetzungen, dann vielleicht schon. Wenn die Kühlung so klappt wie jetzt, wäre das denkbar.

SZ: Das klingt ja optimistisch.

Sailer: Das ist nicht optimistisch. Wir sind, wenn Sie so wollen, auf der Intensivstation. Die Frage ist, ob es schlimmer wird oder gleich schlimm bleibt.

SZ: Die Staaten reagieren unterschiedlich - der türkische Energieminister vergleicht das Risiko der Atomkraft mit der geringen Lebenserwartung unverheirateter Menschen, die Deutschen wollen gleich aussteigen. Reagieren wir über?

Sailer: Aus meiner Sicht reagieren die Deutschen schon richtig. Es ist seit vielen Jahren bekannt, dass das Risiko von schweren Unfällen besteht. Trotzdem haben wir erst jetzt in Politik und Gesellschaft eine Diskussion darüber, dass wir jederzeit mit einem schweren Unfall rechnen müssen. Das heißt auch, wir müssen darüber entscheiden, wie wir in Zukunft mit diesem Risiko umgehen.

SZ: Die RSK soll die Meiler nun überprüfen. Was wollen Sie da noch erfahren? Die Schwachstellen sind doch bekannt.

Sailer: Viele Fragen stellen sich aber anders als bisher. Es geht jetzt auch darum, was bei einem stärkeren Erdbeben passiert, oder bei einem Flugzeugabsturz mit großen Maschinen. Es sind Fragen wie in Japan: Das Kernkraftwerk ist für Störfälle ausgelegt, aber dann passiert etwas, was stärker ist als diese Auslegung. Außerdem untersuchen wir jetzt anders: Bisher ging man in der Analyse immer von Störfall-Szenarien aus. Geprüft wurde, ob sie sich jeweils beherrschen lassen. Jetzt prüfen wir grundsätzlicher.

SZ: Was heißt das?

Sailer: Nehmen Sie die Nebenkühlkreisläufe. Sie sind lebensnotwendig für die Kühlung eines Reaktors. Früher haben wir nur gefragt, kann ein bestimmter Unfall, ein Schaden, dazu führen, dass ein oder zwei dieser Kreisläufe ausfallen? Jetzt fragen wir: Was passiert, wenn alle ausfallen, ganz unabhängig von der Ursache? Wird die Anlage damit fertig? Wir haben ja in Japan gerade gelernt, dass durch so eine Katastrophe plötzlich ganze Systemgruppen nicht mehr laufen. Darauf reagieren wir.

SZ: Umweltschützer bemängeln, Ihre Prüfung basiere allein auf Zahlen, die noch dazu von den Betreibern kommen.

Sailer: Wir müssen die Daten nehmen, die da sind. Wir können unmöglich bis Mitte Mai ganz neue Rechnungen machen. Aber wir werden klären, ob die Rechnungen von unabhängigen Gutachtern geprüft und die Zahlen plausibel sind. Das ist wissenschaftlich sauber.

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Sailer: Dazu sage ich jetzt nichts, ich will unserer Prüfung nicht vorgreifen. Aber es gibt in der Fachwelt schon den Eindruck, dass es einen deutlichen Unterschied zwischen den verschiedenen Generationen von Kraftwerken gibt.

SZ: Etwa beim Schutz vor Terror.

Sailer: Auch das werden wir genauer erst wissen, wenn es ein Ergebnis gibt.

SZ: Und wenn dann Kernkraftwerke abgeschaltet werden, kommt der Atomstrom aus Frankreich und Tschechien.

Sailer: Wir können genug Strom im eigenen Land erzeugen. Die Energiekonzerne entscheiden, wo sie den Strom herholen. Knapp wird er jedenfalls nicht.

SZ: Bis wann wäre ein Atomausstieg denn zu schaffen?

Sailer: Insgesamt sicher bis 2020. Dazu müssen wir aber auch neue Leitungen und Speicher bauen, um regenerativen Strom dahin zu bekommen, wo er verbraucht wird.

SZ: Andere Staaten bauen Reaktoren.

Sailer: Ja, leider. Eine ganze Reihe davon soll sogar in stark erdbebengefährdeten Zonen gebaut werden. Oder in Ländern, in denen massive andere Einwirkungen drohen. Nehmen Sie nur die Staaten in Nordafrika. Wäre da ein Kernkraftwerk in Betrieb gewesen, dann wären die letzten Wochen extrem riskant gewesen.

© SZ vom 06.04.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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