Alles war vorbereitet: Das Stehpult für den Vortrag der Staatsanwälte war im Gerichtssaal festgeschraubt, die Papiere mit Argumenten ordentlich gestapelt, die Wasserflaschen und Gläser für die Redner standen bereit. Immerhin hatte die Bundesanwaltschaft angekündigt, sie wolle zum Abschluss des NSU-Prozesses 22 Stunden lang plädieren. Das sind rund fünf Tage. Nach 373 Verhandlungstagen sollten am Mittwoch endlich die Plädoyers beginnen. Aber daraus wurde nichts - obwohl das Gericht sehr darauf drang.
Der Streit ging diesmal um eine sehr praktische Frage. Was ist wichtiger: dass die Angeklagten verstehen, was ihnen die Bundesanwaltschaft vorwirft und das auch nachlesen können oder der Wunsch der Staatsanwälte, unbefangen zu sprechen, ohne dass dies aufgezeichnet wird und Wort für Wort wiedergegeben werden kann? An dieser Frage ist am Mittwoch das geplante Plädoyer der Bundesanwaltschaft im NSU-Prozess gescheitert.
Anders als in vielen anderen europäischen Ländern werden in Deutschland Verhandlungen nicht aufgezeichnet oder protokolliert. Jeder Prozessbeteiligte schreibt für sich mit, was ihn interessiert - und überhört dabei notgedrungen immer wieder wichtige Passagen. Es ist ein altes Problem, das nun den NSU-Prozess belastet.
In seltener Einigkeit forderten die Verteidiger - bis auf die von Carsten S.- , dass das Gericht die langen Vorträge der Staatsanwälte akustisch aufzeichnet - sodass die Angeklagten und ihre Verteidiger sie nachlesen und dann besser darauf eingehen könnten. Doch das Gericht lehnte den Wunsch rundweg ab und erklärte, gegen den Willen der Bundesanwälte sei das unmöglich, denn sonst würden deren Persönlichkeitsrechte verletzt. Außerdem seien die Verteidiger doch erfahrene Juristen und in die Materie eingearbeitet, sie könnten mitschreiben.
Doch die Verteidiger nahmen diese Entscheidung nicht einfach hin. Und sie hatten gewichtige Argumente auf ihrer Seite: Gerade den Inhaftierten Beate Zschäpe und Ralf Wohlleben, die seit mehr als fünf Jahren in Haft sitzen, falle es schwer, sich so lange zu konzentrieren, war eines. Ein anderes: Wenn die Staatsanwälte als Vertreter des Staates auftreten und ihr Plädoyer halten, dann treten ihre Persönlichkeitsrechte zurück. Sie würden ja nicht bei irgendeinem Plausch in ihrer Freizeit belauscht. Die Bundesanwaltschaft hatte es abgelehnt, ihre Vorträge auf Band aufnehmen zu lassen. Es könne zu Versprechern kommen, man werde dann in der Öffentlichkeit vorgeführt. "In vier Jahren Sitzungsdauer ist der Bundesanwaltschaft kein peinlicher Versprecher unterlaufen", entgegnete Ralf Wohllebens Anwalt Olaf Klemke. Und wenn, dann könnten die anwesenden Journalisten auch ohne Aufzeichnung darüber berichten. Noch wichtiger allerdings war dieses Argument: Der Senat habe eine Fürsorgepflicht gegenüber den Angeklagten. Und die müssten die Plädoyers selbst wahrnehmen und ganz verstehen. Wenn schon nicht aufgezeichnet werde, dann sollten die Staatsanwälte ihre schriftlichen Unterlagen herausgeben oder das Gericht einen Stenografen bezahlen. Sowohl Zschäpe, Wohlleben wie auch der Angeklagte Holger G. erklärten nacheinander, sie fühlten sich nicht in der Lage, den langen Plädoyers zu folgen.
Bundesanwalt Herbert Diemer wehrte sich heftig. Die Staatsanwälte seien "keine rechtlosen Gesellen", die kein Persönlichkeitsrecht hätten. Sie seien auch nicht verpflichtet, ihre Plädoyers an "jeglichen Verständnishorizont anzupassen". "Wir machen hier keinen Stuhlkreis, sondern das ist ein Prozess. Und die Strafprozessordnung sieht es nicht vor." Doch sie verbietet es auch nicht.
Ganz abwegig erschienen dem Vorsitzenden Richter Manfred Götzl die Argumente der Verteidiger nicht. Der Streit ist ein grundsätzlicher: Wie weit muss sich die Justiz der Moderne anpassen? Im NSU-Prozess kommt es nun zur Nagelprobe. Götzl unterbrach kurzerhand den Prozess und will ihn erst am nächsten Dienstag fortsetzen - genug Zeit, um nachzudenken. Frühestens dann könnten die Plädoyers beginnen - mit oder ohne Aufzeichnung.